Pio

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Der 14-jährige Pio, der mit seiner Roma-Familie in einer heruntergekommenen Wohnsiedlung in Kalabrien lebt, muss innerhalb kürzester Zeit erwachsen werden. Denn nach der Verhaftung von Bruder und Vater muss er plötzlich dafür sorgen, dass die Familie genug Geld und zu essen hat. Regisseur Jonas Carpignano gewährt einen authentischen, unverstellten Einblick in die Lebensrealität italienischer Roma, die sich durch ihren mühsamen, von Schikanen geprägten Alltag kämpfen. „Pio“ ist aber zugleich auch das Porträt einer Jugend in ärmlichsten Verhältnissen sowie am Rande der Gesellschaft - und das mitten in Europa.

Webseite: dcmworld.com

Italien/Deutschland/Frankreich/USA/Schweden/Brasilien 2017
Regie & Drehbuch: Jonas Carpignano
Darsteller: Pio Amato, Damiano Amato, Koudous Seihon, Iolanda Amato
Länge: 118 Minuten
Verleih: DCM Filmdistribution
Kinostart: 05. April 2018

FILMKRITIK:

Der 14-jährige Pio (Pio Amato) wächst in einer italienischen Küstenstadt zwischen den italienischen Dorfbewohnern, Migranten und seiner Roma-Community auf. Perspektiven und Hoffnung auf eine Zukunft ohne Armut gibt es für die dort Lebenden nicht. Umso wichtiger ist für Pio der Zusammenhalt in der Familie. Er eifert seinem großen Bruder und Vorbild Cosimo (Damiano Amato) nach, dem er nur selten von der Seite weicht. Die Situation ändert sich schlagartig, als Cosimo und Pios Vater in den Knast wandern. Plötzlich ist es an Pio, die Familie zu ernähren und über sie zu wachen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als durch kriminelle Aktivitäten an das nötige Geld zu kommen. Unterstützung erhält er dabei ausgerechnet von Ayiva (Koudous Seihon), einem Flüchtling aus Burkina Faso, mit dem er sich langsam anfreundet. Eines Tages muss Pio eine schwerwiegende Entscheidung treffen.

Nach dem Drama „Mediterranea“ (2015) ist „Pio“ der zweite Spielfilm des italienisch-amerikanischen Filmemachers Jonas Carpignano. Schon in „Mediterranea“ war Darsteller Pio Amato in einer Nebenrolle zu sehen. Seine Weltpremiere feierte „Pio“ in der Directors‘ Fortright-Sektion auf dem letztjährigen Filmfestival in Cannes. „Pio“ beruht auf einem Kurzfilm von 2014, in dem es bereits um den Roma-Jungen ging. Gedreht wurde in der kalabrischen 20000-Einwohner-Gemeinde Gioia Tauro.

„Pio“ ein sozialrealistisches Drama über das Aufwachsen in einer schäbigen Wohnsiedlung, das aufgrund seines dokumentarischen Ansatzes enorm glaubwürdig und unmittelbar geraten ist. Regisseur Carpignano ist bekannt für seine dem Dokumentarfilm entlehnten Stilmittel und Techniken, die in „Pio“ erneut zum Einsatz kommen. Gefilmt an Originalschauplätzen und bestückt mit Laien-Schauspielern die sich allesamt selbst spielen, drehte Carpagnino den kompletten Film mit Handkamera. Und aus der Sicht von Pio.

Die Kamera ist immer ganz dicht bei der Hauptfigur, mal unmittelbar hinter Pio, mal direkt neben ihm.  So z.B. wenn er seinen Bruder bei dessen Autodiebstählen begleitet, wenn er selbst erste krumme Dinger abzieht oder wenn am heimischen Esstisch mal wieder über den harten Alltag in der Siedlung geschimpft wird. Und über die Carabinieri, von denen sich die Roma aufgrund der ständigen Razzien schikaniert fühlen. Einen wesentlichen Einfluss auf Pio und seine Sicht auf die Dinge hat dabei auch seine Oma, die einerseits besorgt ist um das Wohl ihrer Familie und ihrer Enkel. Andererseits aber auch weiß, dass Pio (ungemein glaubwürdig und dringlich: Pio Amato)  nichts anderes übrig bleibt als eine kriminelle Laufbahn einzuschlagen – wie alle in der Familie. Nicht zuletzt wegen der fehlenden Schulbildung. Nicht einmal Lesen kann der Junge, wie in einer kurzen Szene im Film deutlich wird.

Es ist das Hauptverdienst von Carpignano, die schwierigen Lebensbedingungen in (süd-) italienischen Roma-Siedlungen so unverstellt und ungekünstelt mit hohem Realismus zu zeigen. Und ebenso die Umstände, in denen die Jüngsten dort aufwachsen müssen. Schockierend ist mit anzusehen, wie schon Drei- oder Vierjährige wie selbstverständlich am Glimmstängel hängen, sechsjährige Jungs bereits hinter dem Steuer von – geklauten – Autos sitzen und der Alkohol auf dem Esstisch steht. Carpignano verschließt nicht die Augen vor diesem Leben in Armut und Kriminalität, im Gegenteil, er hält mit seiner Kamera direkt drauf. Die Bilder, die auf diese Weise eingefangen werden, sind nicht immer leicht zu ertragen aber sie sind wichtig um das Abgleiten in die Illegalität zu verstehen und um Verständnis zu wecken.

Björn Schneider