Wunder der Wirklichkeit

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Am 22. Dezember 1991 starb Martin Kirchberger bei einem Flugzeugabsturz, bei den Dreharbeiten für einen satirischen Kurzfilm. Über seine hessische Heimat hinaus war Kirchberger kaum bekannt, was besonders verwundert, da das Multitalent mit seiner überbordenden Energie, seinen vielen Ideen und Projekten trotz seines allzu kurzen Lebens enorm viel hinterließ, wie Thomas Frickel in seiner Dokumentation „Wunder der Wirklichkeit“ zeigt.

Webseite: www.realfictionfilme.de

Dokumentation
Deutschland 2017
Regie & Buch: Thomas Frickel
Länge: 96 Minuten
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 24. Mai 2018

FILMKRITIK:

Es war eines der schlimmsten Flugzeugunglücke in der deutschen Geschichte: Am 22. Dezember 1991 prallte in der Nähe von Heidelberg eine DC-3A bei schlechter Sicht auf den keine 500 Meter hohen Berg Hoher Nistler. 28 Menschen kamen ums Leben, nur vier überlebten. Unter den Toten waren auch Martin Kirchberger und seine Crew, mit denen er an dem satirischen Kurzfilm zum Thema Sicherheit arbeitete, der „Bunkerlow“ heißen sollte.
 
Bis Sekunden vor dem Unglück wurde gedreht, auch und vor allem im Cockpit, was den Ermittlern ermöglichte sehr präzise die Umstände des Unglücks zu ermitteln, was aber auch erlaubt, einen Einblick in die offenbar oft etwas fahrlässigen Arbeitsmethoden Kirchbergers zu nehmen. Es mutet haarsträubend an, zu sehen, wie im Cockpit gefilmt wurde, wie der Pilot offensichtlich abgelenkt wird, immer wieder sekundenlang in die Kamera blickt, um schließlich nur ein paar Sekunden vor dem Absturz die Dreharbeiten abzubrechen. Zunehmend dichter Nebel erschwerte die Sicht, die zusätzlich durch abgedunkelte Scheiben reduziert war, die nötig waren, damit ein filmen im Cockpit möglich wurde.
 
Traurige Ironie ist, dass dies der erste Film Kirchbergers war, der öffentliche Förderung bekam: Der teure Flug, der schließlich im Unglück endete, war also nur möglich, weil zum ersten Mal wirklich Geld zur Verfügung stand, da Kirchberger mit seinen Filmen endlich mehr Aufmerksamkeit bekam. Bis dahin hatte der 1960 geborene Kirchberger sich in Rüsselsheim und Umgebung als umtriebiger Tausendsasa einen Namen gemacht, der neben satirischen Kurzfilmen, die man heute zum Teil als Mockumentarys bezeichnen würde, als Schlagzeuger der Band „Kapitän Rüssel“, als Fassadenmaler und als politischer Aktivist agiert.
 
Thomas Frickel kannte Kirchberger schon lange, berichtete als Journalist in der Lokalpresse oft über die Aktionen von Kirchberger und seiner Mitstreiter. Gut 25 Jahre nach dem Flugzeugabsturz sah Frickel, der sich inzwischen mit Dokumentationen wie „Goethe Light“ oder „Die Mondverschwörung“ einen Namen gemacht hatte, die Zeit gekommen, sich mit seinem Freund und dessen Wirken zu beschäftigen. Doch „Wunder der Wirklichkeit“ ist nicht nur ein Porträt von Martin Kirchberger, nicht nur eine Hommage an ein Multitalent, der im Stile von Unikaten wie Martin Kippenberger oder seinem Zeitgenossen Christoph Schlingensief auf ganz individuelle, von anarchischer Kraft geprägten Art Kunst machte, die immer auch systemkritisch war.
 
Anhand von zahlreichen Filmdokumenten aus der Zeit und Gesprächen mit Kirchbergers Freunden und Mitstreitern wird eine Zeit zum Leben erweckt, in der auf ungewöhnlich freie Art Kunst gemacht, sich ausprobiert und auch mal über die Stränge geschlagen wurde. Haarsträubend muten die Aktionen Kirchbergers oft an, sich an Grenzen herantastend und sie immer wieder auch überschreitend. Dass am Ende eine solche Aktion in der Katastrophe endete, verleiht dem Leben und Wirken Martin Kirchbergers eine besonders tragische Note, und Thomas Frickels „Wunder der Wirklichkeit“ seinen doppeldeutigen Titel, denn Wunder ist nur ein Buchstabe von „Wunden“ entfernt.
 
Michael Meyns