Es ist eine ungewöhnliche Fortsetzung, die Autor und Regisseur Chris Kraus mit „15 Jahre“ auffährt. Ein Film, der 17 Jahre nach „Vier Minuten“ spielt, in dem Hannah Herzsprung erstmals Jenny von Loeben war – eine damals junge Frau, die nicht gemordet hat, aber als Mörderin verurteilt wurde. In „15 Jahre“ ist sie nun wieder frei. Frei in einem Leben, das nicht mehr das ihre ist, und in dem sie mit dem Gedanken spielt, ihren Liebhaber aufzusuchen. Der fast zweieinhalb Stunden lange Film ist eine emotionale Wucht!
Webseite: https://www.wildbunch-germany.de/movie/15-jahre
Deutschland / Österreich 2023
Regie: Chris Kraus
Buch: Chris Kraus
Darsteller: Hannah Herzsprung, Hassan Akkouch, Albrecht Schuch
Länge: 143 Minuten
Verleih: Wild Bunch Germany
Kinostart: 11. Januar 2024
FILMKRITIK:
Jenny ist nach 15 Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie arbeitet in einer Reinigungsfirma. Durch Zufall trifft sie so einen alten Bekannten wieder, der als Klavierlehrer arbeitet. Er weiß um Jennys großes Talent und will sie dafür gewinnen, mit seinem Schützling Omar, einem begnadeten Komponisten, der in Syrien einen Arm verlor und fliehen musste, in einer Talent-Show aufzutreten. Daran hat Jenny kein Interesse, ihre Gedanken kreisen nur um den Mann, wegen dem sie 15 Jahre absitzen musste. Ein Mann, dem sie in der Talent-Show wiederbegegnen könnte.
Man muss „Vier Minuten“ nicht gesehen haben, um von „15 Jahre“ mitgerissen zu werden. Alles, was man wissen muss, erklärt Chris Kraus in seinem neuen Film. Hannah Herzsprung spielt erneut Jenny. Noch immer aggressiv, noch immer rebellisch, aber bemüht, ein neues Leben zu finden. Doch wie hebt man die Scherben eines Lebens auf? Wie findet man den inneren Frieden, den man braucht, um weiterzumachen?
„Vergebung bedeutet, jede Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit loszulassen“, steht am Anfang des Films. Das ist ein Zitat von Jack Kornfield, einem buddhistischen Lehrer. Es ist exemplarisch für Jenny, deren Vergangenheit eine traurige ist und die niemals eine bessere werden wird. Solange sie an ihrer Wut festhält, wird ihre Vergangenheit niemals aufhören, auf sie einzuwirken. Aber das kann sie nicht. Erst recht nicht, als sie erfährt, welches Leben ihr Liebhaber von damals führt und was er aus sich gemacht hat. Sie kann ihm nicht vergeben, und sich vielleicht auch nicht.
Eine neue Liebe ändert daran nichts, ein Leben, das wieder Form annimmt, ändert daran nichts – was bleibt, ist die unbändige Wut. Über den Verlust, den sie ertragen musste, über den Verrat, den sie nicht fassen konnte, und am Ende trifft sie eine Entscheidung.
Ihr Leben ist aus dem Lot geraten, es wurde zertrümmert und aufgerieben in 15 Jahren Gefängnis – eine Zukunft sieht sie nicht. Ihr bleibt nichts, oder zumindest fühlt es sich für sie so an. Weil es Ereignisse im Leben gibt, nach denen nicht mehr nur nichts gleich ist, sondern auch kein Weitermachen möglich ist. Es gibt die Leben, die in ihrer Gänze vernichtet werden, und die denen, die dennoch weiterleben müssen, letztlich nur eines übriglassen: Aufzuräumen.
Das spielt Hannah Herzsprung mit immenser Intensität. Immer wieder gibt es extreme Nahaufnahmen. Ein Blick in ihre Augen ist ein Blick in ihre Seele – man erkennt die Trostlosigkeit und das Verlorensein dahinter. Nicht minder hervorragend ist Albrecht Schuch als ihr alter Freund und Hassan Akkouch, der ihr einen Ausweg in ein neues Leben bietet. Am Ende ist nichts so, wie man es erwartet, und dann auch wieder schon. Weil der Autor und Regisseur Chris Kraus zumindest einen Hoffnungsschimmer bietet. Wer weiß, vielleicht wird man Jenny von Loeben in ein oder zwei Jahrzehnten wiedersehen.
Peter Osteried