153 Meter

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Lana ist eine Single-Frau Mitte Fünfzig, deren Leben aus den immer selben Hausmeister-Tätigkeiten und der Pflege ihrer Mutter besteht. Ihr einziger Lichtblick ist die hübsche Frau in der Wohnung gegenüber, für die Lana bald eine regelrechte Obsession entwickelt. Das deutsche Indie-Drama „153 Meter“ handelt von Verlangen, verdrängten Gefühlen, Voyeurismus und dem Wunsch danach, dem Alltag zu entfliehen. Ein intelligenter, souverän inszenierter kleiner Film, dessen verspielter visueller Stil heraussticht. Der Zuschauer wird geschickt beeinflusst und ein ums andere Mal hinters Licht geführt.

Deutschland 2022
Regie: Anton von Heiseler
Buch: Maximilian Rummel, Andreas Koch,
Anton von Heiseler
Darsteller: Michaela Caspar, Maria Luise Preuß,
Emilia von Heiseler

Länge: 71 Minuten
Verleih: déjà vu

FILMKRITIK:

Hausmeisterin Lana (Michaela Caspar) lebt gemeinsam mit ihrer pflegebedürftigen Mutter in einer kleinen Wohnung eines riesigen Plattenbaus. Um sich abzulenken und ihrem tristen, monotonen Dasein zu entfliehen, beobachtet Lana durch ihre Videokamera eine junge Frau im benachbarten Wohnblock – und stellt sich vor wie es wäre, eine enge, intime Beziehung zu der Fremden zu führen. Immer tiefer dringt Lana in die Lebensrealität und die Lebenswirklichkeit der Beobachteten ein. Mit gefährlichen Konsequenzen.

Schon in den ersten Minuten des Films zeigt sich, wie gezielt und bewusst der erst 28-jährige Filmemacher Anton von Heiseler seine visuellen Stilmittel einsetzt. Und wie versiert die Kameraarbeit gestaltet ist. In einem rund drei Minuten andauernden, langsamen Zoom holt Lanas Videokamera die Frau in der gegenüberliegenden Wohnung allmählich zu sich heran, bis diese das komplette Display des Camcorders ausfüllt. Lana kommt ihr so auf optischer Ebene näher und näher.

Auch die Einstellungen und Perspektiven wählt von Heiseler passend und wohl überlegt. Einerseits beobachten wir Lana aus dem (eingeengten) Blickwinkel des Lochs in der Hauswand, durch welches Lana mit ihrer Kamera filmt. Und andererseits nehmen die Aufnahmen auf ihrem Camcorder zunehmend das komplette filmische Sichtfeld und Bild ein. „153 Meter“ zieht damit den Betrachter über die Protagonistin, Lana, direkt in den Film hinein. Wir sehen was Lana sieht und werden so ebenfalls zu Voyeuristen. Die Kamera mit ihren unscharfen, körnigen Bildern fungiert gewissermaßen als erweitertes Auge des Kinobesuchers.

Von Heiseler beweist auf diese Weise visuellen Scharfsinn und es gelingt ihm, seiner Story noch zusätzliche, wenig abgenutzte Elemente und Ideen hinzuzufügen. Denn natürlich ist die Prämisse zunächst einmal bekannt und nicht neu: Filme rund um das obsessive Beobachten der Nachbarn und sich daraus entwickelnde Spannungen gibt es zahlreiche. Man denke vor allem an Hitchcocks Klassiker „Das Fenster zum Hof“, an „Disturbia“ (2007) oder zuletzt „The Woman in the Window“ (2021).

„153 Meter“ ist jedoch weniger Suspense-Produktion oder Mystery-Thriller als vielmehr geerdetes Drama mit dokumentarischem Antlitz. Denn ganz und gar unverstellt und unmittelbar zeigt von Heiseler gleichsam den harten Alltag einer Frau, die sich um ihre seit einem Schlaganfall halbseitig gelähmte Mutter kümmern muss.

In langen, statischen Einstellungen gewährt der Film Einblicke in ein Dasein, das aus Pflege, Alltagsbewältigung und den stets selben Abläufen besteht (Essen, Körperpflege, Mobilisation). Umso stärker ist der Kontrast der Camcorder-Aufnahmen, die direkt in das Leben der fremden Frau führen. In diese Welt flüchtet sich Lana, um ihre Sorgen zu vergessen. Ein spannender Widerpart, dessen man sich als Zuschauer nur schwer entziehen kann.

Eine großartige Performance zeigt Michaela Caspar als undurchsichtige, emotional instabile Lana, die ihrer Mutter gegenüber auch schon mal zu Gewalt neigt. Stoisch verrichtet sie die monotonen Hausmeistertätigkeiten im Apartmentkomplex. Ihr bizarres Schauspiel wirkt so entrückt, dass es schwer ist eine emotionale Bindung zu ihr aufzubauen. Und wenn die Grenzen zwischen Realität und Wirklichkeit, zwischen Lanas Leben und dem der fremden Frau in der anderen Wohnung, zunehmend verschwimmen, stellt sich in „153 Meter“ mit zunehmender Laufzeit eine mysteriöse, regelrecht surreale Atmosphäre ein.

 

Björn Schneider