Ein atmosphärischer Debütfilm ist Lothar Herzog mit „1986“ gelungen, der letztes Jahr in Hof mit dem Regie-Preis ausgezeichnet wurde. Ein passender Preis für einen Film, der seine mäandernde Geschichte weniger erzählt, als andeutet, der inhaltlich nicht immer zwingend erzählt, aber starke Bilder für die Seelenzustände seiner Hauptfigur findet.
Website: www.dejavu-film.de
Deutschland/ Weissrussland 2019
Regie & Buch: Lothar Herzog
Darsteller: Anna Anisenko, Ruslan Chernetskiy, Igor Denisov, Aleksey Filimonov, Kehlga Filippova, Gennadiy Fomin
Länge: 77 Minuten
Verleih: déjà-vu film
Kinostart: 9.9.2021
FILMKRITIK:
„1986“ spielt in der Gegenwart, in Weißrussland, zwischen der Metropole Minsk und dem Südosten des Landes, wo an der Grenze zur Ukraine jene Zone liegt, die nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl jahrelang verstrahlt und unbewohnbar war. 1986 geschah das Unglück, als Weißrussland noch Teil der Sowjetunion war. Inzwischen ist das Land unabhängig und sucht zwischen den Einflusssphären Russlands und der EU nach seiner Rolle.
So ähnlich wie Elena (Daria Mureeva), eine junge Studentin, die gelangweilt in Vorlesungen sitzt, in denen die wirtschaftliche Stärke ihres Heimatlandes beschworen wird. Die Wirklichkeit – das weiß Elena trotz ihres jungen Alters längst – sieht anders aus, gerade für jemand, der wie sie aus einfachen Verhältnissen kommt. Ihr Vater ist am System gescheitert, ist wegen Steuerschulden im Gefängnis. Nun ist es an Elena, Geld aufzutreiben, viel mehr Geld, als auf legalem Weg möglich ist. So überredet sie die Partner ihres Vaters, dass sie fortan mit dem Laster des Vaters in die Zone fahren darf, um von dort Altmetall abzuholen und gewinnbringend zu verkaufen.
Nicht ungefährlich ist dieses Schmuggelgeschäft, das Elena in abgelegene, einsame Gegenden führt, an denen der Fortschritt überdeutlich vorbeigegangen ist. Ganz anders Minsk; die Hauptstadt, wo sich Elena in Nachtclubs rumtreibt, Affären hat, die Chance bekommt, mit einem Mann nach Moskau zu gehen, als hübsches Anhängsel, aber gut versorgt. Doch noch geht sie darauf nicht ein, noch bleibt sie bei Viktor (Evgeni Sangadzhiev), ihrem langjährigen Freund, auch wenn die Beziehung längst kriselt und kaum mehr als Fassade ist.
Er wollte davon erzählen, wie die Folgen einer Jahrzehnte zurückliegenden Katastrophe auch Psyche und Leben von Menschen bestimmt, die lange nach 1986 geboren wurden, sagt Lothar Herzog über seinen Debütfilm. Ein etwas verkopfter Ansatz, der von der losen Erzählweise, die „1986“ bestimmt, nicht immer eingelöst wird. Weniger linear als assoziativ wird Elenas Leben gezeigt, teils abrupt zwischen Minsk und der Zone, zwischen Stadt und Land hin und her gesprungen. Vielsagende Kontraste entstehen dadurch, Bilder von einem Land, das sich einerseits der globalen Moderne annähert, andererseits noch in ländlichen Strukturen verhaftet geblieben ist.
Zwischen diesen Polen lässt Lothar Herzog seine Hauptfigur mäandern, ohne klares Ziel, auf der einer unbestimmten Suche nach sich selbst, die trotz der geradeso abendfüllenden Länge von 77 Minuten bisweilen etwas dünn wirkt. Ein wenig mehr Substanz, etwas prägnantere Figuren und Situationen hätten „1986“ gut getan, der so ein Film bleibt, der vor allem von seinen Bildern, seiner Atmosphäre lebt, der Evokation eines Landes im Niemandsland zwischen seiner Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft.
Michael Meyns