360

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Der handwerklich virtuose Episodenfilm „360“ basiert lose auf Arthur Schnitzlers Novelle „Der Reigen“. Souverän verwebt der brasilianische Ausnahmeregisseur Fernando Mireilles („City of God“) Schicksale zu einer emotionalen Momentaufnahme über Liebe, Sexualität, Aufbruch, Betrug und Beziehungen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Ein Blick auf die moderne, global vernetzte Welt wie durch ein schillerndes Kaleidoskop zwischen romantischer Tragödie und Thriller, unterstützt von einem überzeugenden Schauspielensemble aus exquisiten Charakterdarstellern, talentierten Newcomern und Hollywoodgrößen wie Jude Law und Oscarpreisträger Anthony Hopkins.

Webseite: www.prokino.de

England, Österreich, Frankreich, Brasilien 2011
Regie: Fernando Meirellees
Buch: Peter Morgan
Darsteller: Anthony Hopkins, Jude Law, Rachel Weisz, Moritz Bleibtreu, Ben Foster, Jamel Debbouze, Johannes Krisch
Länge: 110 Minuten
Verleih: Prokino
Kinostart: 23. August 2012

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Mit „City of God“, dem pulsierendem Panorama der Favela Rio de Janeiros, schuf er einen der brillantesten Filme der vergangenen Jahre, seine Romanverfilmung „Der ewige Gärtner“ wurde für vier Oscars nominiert: Fernando Meirelles stieg in kurzer Zeit zu einem der renommiertesten Filmemacher der Welt auf. Die realistische Bildsprache seines neuen Arthousefilms treibt seine Figuren diesmal nicht unermüdlich in Extremsituationen. Versiert streut der Ausnahmeregisseur das reizvolle Puzzle seiner Erzählstränge aus. Gespannt sieht man dem Lateinamerikaner dabei zu, wie er nach und nach die einzelnen Teile zusammenfügt.

Dabei vertraut der 56jährige beim Durchwandern seines globalen Beziehungsreigens ganz auf die Emotionalität seiner neun Geschichte und den teilweise überraschenden Wendungen. Die Protagonisten, deren Wege sich immer wieder kreuzen, sind ständig in Bewegung. Genauso wie die Kamera mit ihren Kreisfahrten. Zugegeben, dass manche Sequenzen seines Potpourri zuweilen weniger kräftig wirken. Schließlich ist es ein komplexes Unterfangen, acht verschiedene Sprachen und diverse Schauplätze in eine funktionierende Filmhandlung zu verwandeln. In den stärksten Momenten erinnert das romantische Drama freilich an Gonzales Iñárritus kühnen Versuch in „Babel“ durch globale Verstrickungen universelle Menschlichkeit aufzuzeigen. Seit Filmen wie dem Drogenthriller „Traffic“, dem Politdrama „Syriana“ oder auch „L.A. Crash“ avanciert diese Form der Parallelmontage in „Short Cut“- Manier fast zu einer Disziplin.

Alles beginnt und endet mit einer slowakischen Prostituierten in Wien. Michael Daly (Jude Law), ein Unternehmer auf Geschäftsreise, steckt in einer Ehekrise. Das frischgebackene Callgirl Mirka ( Lucia Siposová ) wartet bereits an der Hotelbar auf ihn. Doch da funkt sein deutscher Geschäftspartner (Moritz Bleibtreu) unabsichtlich dazwischen. Die Situation wird heikel. Michael entscheidet sich. Er verlässt die Bar alleine und telefoniert mit seiner Frau Rose (Rachel Weisz) in London. Von ihrer leidenschaftlichen Affäre mit dem jungen brasilianischen Fotografen Rui (Juliano Cazarré) ahnt er nichts. Ruis Freundin Laura (Maria Flor) dagegen, mit der Rui zusammen aus Brasilien nach England kam, entdeckt den Betrug.

Verzweifelt trennt sie sich von ihm, um in die Heimat zurückzukehren. In Paris ringt unterdessen ein algerischer Witwer (Jamel Debbouze) mit seinen Gefühlen. Der Zahnarzt hat sich hoffnungslos in seine verheiratete russische Angestellte Valentina verliebt. Krank vor Sehnsucht verfolgt er sie zum Flughafen. Ab hier geht der verschachtelte Plot, der auch in Bratislava, Rio, Denver und Phoenix spielt, im Dominoeffekt weiter. Denn Laura trifft auf ihrem Flug Richtung Heimat auf John, einen älteren Mann (Anthony Hopkins). Ein gewaltiger Schneesturm lässt die beiden in Denver stranden. Unter den Hunderten von Passagieren auf den Flughafen befindet sich auch Tyler (Ben Forster), ein verurteilter Sexualstraftäter.

Gezielt unterstreichen dabei die Sequenzen die jeweilige Stimmung und Gefühlslage der Akteure. Das Timing ist zwar immer perfekt. Mireilles suggestiver Regiestil weiß genau, wann es wieder Zeit ist, den Schauplatz zu wechseln. Mitunter aber berührt eine Episode besonders, wie etwa die Geschichte um John, herausragend gespielt von Oscarpreisträger Anthony Hopkins und der jungen brasilianischen Schauspielerin Mira Flor. In diesen sehr starken Szenen wünscht man sich unwillkürlich, dass die Kamera verweilt und die Inszenierung in die Story, die sich wie ein neuer Film anfühlt, noch mehr einsteigt.

Verblüffend ist, wie sich ein Schauspieler wie Jude Law, der zur männlichen Hollywood-Elite zählt, als distinguierter Geschäftsmann in dieses Setting einfügt. Gehörten früher eher Gigolos und Lebemänner zu den Spezialitäten des 39jährigen Briten, scheint er nun zum Mann gereift, der sich seiner Verantwortung stellt. Vom charmanten Sonnyboy Dickie, der sich in „Der talentierte Mr. Ripley“ hemmungslos dem Dolce Vita hingibt, scheint er inzwischen weit entfernt. „Er ist ein Vater, der wahrscheinlich weiß, dass er mehr zuhause sein sollte, um seine Tochter aufwachsen zu sehen“, sagt Jude Law über seine Figur. Neben ihm glänzt in der Londoner Story um Betrug, Entfremdung und schließlich Versöhnung eines Yuppie-Ehepaares die aparte Oscarpreisträgerin Rachel Weisz. Als Multitalent ist es der gebürtigen Londonerin gelungen sich möglichst weit von der Masse der Hollywoodstars abzuheben.

Luitgard Koch

Der brasilianische Filmemacher Fernando Mireilles hat nach dem Welterfolg „City of God“ seine Heimat filmisch hinter sich gelassen und mit „Der ewige Gärtner“ und „Die Stadt der Blinden“ internationale Co-Produktionen gedreht. Für seinen neuen Film ging er diesen Weg weiter, drehte in Metropolen auf der ganzen Welt und trommelte mit Anthony Hopkins, Jude Law, Rachel Weisz und Moritz Bleibtreu eine imposante, multinationale Besetzung zusammen. Das Drehbuch stammt von Star-Schreiber Peter Morgan („Die Queen“, „Frost/Nixon“), der sich für seine Geschichte von Arthur Schnitzlers Stück „Der Reigen“ inspirieren ließ.

Der Londoner Geschäftsmann Michael (Jude Law) will sich während einer Geschäftsreise in Wien mit einer Dame vom Escort-Service vergnügen. Aber kurz bevor er sie trifft, kommt ihm sein deutscher Kollege (Moritz Bleibtreu) in die Quere, so dass aus dem Date nichts wird. Für den verheiratenen Michael die Rettung, denn ihm wird bewusst, wie sehr er seine Frau Rose (Rachel Weisz) trotz aller Probleme noch immer liebt. Allerdings ahnt er nicht, dass die ihn mit dem jungen brasilianischen Fotografen Rui (Juliano Cazarré) betrügt. Dessen Freundin Laura (Maria Flor) allerdings ist über Ruis Untreue sehr gut im Bilde und verlässt ihn gen Heimat Rio de Janeiro. Während des Fluges lernt sie einen älteren Herrn (Anthony Hopkins) kennen, der seit Jahren auf der Suche nach seiner verschwundenen Tochter ist.

Stilwechsel für Fernando Mireilles. Bekannt wurde er durch seine expressive Regie: Stakkato-Schnitt („City of God“), ungewöhnliche Kadragen („Der ewige Gärtner“), Kamera-Experimente („Stadt der Blinden“). In „360“ hält sich Mireilles beobachtend im Hintergrund und lässt die Geschichten laufen. Einzig in den eleganten Überblendungen zwischen den Geschichten und dem elegant eingesetzten Split-Screen stecken Reste seiner früheren Inszenierungswut. Und es scheint, als habe Mireilles guten Grund, diesmal die Geschichte in den Vordergrund zu stellen, schließlich schrieb Peter Morgan das Drehbuch. Aber ausgerechnet das erweist sich als herbe Enttäuschung.

Wie Morgan im Presseheft berichtet, wollte er von seinen eigenen Erfahrungen während zahlloser Geschäftsreisen erzählen, von den endlosen Stunden an Flughäfen und den multinationalen Milieus, die dort zusammenkommen; von der immer engeren Vernetzung der Welt, die seiner Meinung nach im 21. Jahrhundert zu einer einzigen großen Gemeinde verschmolzen sei. Vielleicht liegt hier das Problem: Morgans Geschichte wirkt tatsächlich, als sei sie von der sterilen, unpersönlichen Atmosphäre des Transitraums Flughafen angesteckt.

Alle Episoden bleiben seltsam unverbindlich und distanziert; alle deuten eine Komplexität an, die sie nie einlösen. Nichts gegen Happy Endings – aber hier fällt doch unangenehm auf, wie umstandslos jeder einzelne Erzählfaden zu einem guten Ende führt, das in den meisten Fällen unglaubwürdig bis gar nicht motiviert ist. Das führt zum größten Teil dazu, dass der Zuschauer an den Protagonisten kein Interesse entwickeln kann. Bei anderen Episoden um das Callgirl aus Slowenien oder einen Sexualverbrecher aus den USA aber wirkt der geradezu gelangweilte Erzählton ärgerlich leichtfertig. Hier wird jedes Schicksal nivelliert, für die Geschichte funktionalisiert und leichtfertig abgespeist. So wird Morgan der Komplexität der Welt, von der er erzählen will, ganz sicher nicht gerecht.

Oliver Kaever

360. Die Zahl beschreibt den Kreis, die Sicht von allen Seiten, die Erdumrundung, das Geschehen ebenso in Europa wie in Asien, ebenso in Europa wie in Amerika.

Darum geht es in diesem Film, um weltweite wenn auch zufällige Kommunikation, allerdings auch um das ebenso zufällige Scheitern von Verbindungen.

Es beginnt in Wien, wo der Zuhälter Rocco die Slowakin Mirka unter den Augen ihrer Schwester Anna zur Escort-Dame (pardon: Prostituierten) „ausbildet“. Der Geschäftsmann Michael Daily will Mirka buchen, doch das klappt nicht. Er kehrt heim nach London zu seiner Frau Rose, die gerade mit dem Fotografen Rui Schluss gemacht hat. Doch auch Rui wird wegen seines ständigen Fremdgehens von seiner Freundin, der Südamerikanerin Laura verlassen. Laura wird sofort in ihre Heimat zurückfliegen.

In Paris wirbt derweil ein aus Algerien stammender noch junger Witwer um seine Angestellte Valentina. Die liebt ihren Chef ebenso, doch beide wagen es nicht zu bekennen! Valentina ist die Noch-Ehefrau von Sergei, eines ziemlich grob wirkenden russischen Kerls, der seinen reichen Boss herumkutschiert und ihm Waffen zuträgt. Sergei wird später Anna treffen – und nicht nur das.

Der entlassene ehemalige Sexualstraftäter Tyler versucht seinen ersten Alleingang. Er schafft es nicht.

Laura, die sich auf dem Heimflug befindet, trifft auf einen älteren, seine verschollene Tochter suchenden Herrn, mit dem sie sich außergewöhnlich gut versteht. Doch ein unvorhergesehenes Sexabenteuer (ausgerechnet mit Tyler) lässt es nicht zu einer fruchtbareren Verbindung klommen.

Wie heißt es so schön: „Kommt eine Weggabelung, nimm sie“. Welcher der beiden Wege zu nehmen ist, wird allerdings nicht hinzugefügt.

So geht es vielen in diesem Film-(„Reigen“). Es sind menschliche Schicksale, plausibel zusammengestellt, über die ganze Erde verbreitet, spannend und filmisch interessant gestaltet. Gegen Ende wird es sogar noch krimimäßig-packend. Drehbuch, Drehorte, Ausstattung und Produktionsdesign stimmen. Mängel? Nichts Außergewöhnliches.

An diesem Reigen sind Stars wie Anthony Hopkins (älterer Herr), Jude Law (Michael Daily), Rachel Weisz (Rose), Johannes Krisch (Rocco) oder Lucia Siposova (Mirka) beteiligt. Sie sprechen für sich.

Thomas Engel