A Pure Place

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Seit Ausbruch der Corona-Pandemie bestimmen Hygieneregeln unseren Alltag. Sauberkeit ist eines der zentralen Mittel, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Als Filmemacher Nikias Chryssos zusammen mit Lars Henning Jung das Drehbuch zu seiner zweiten abendfüllenden Regiearbeit schrieb, die von einer auf Reinlichkeit fixierten Sekte handelt, ahnte er wohl nicht, welche Rolle dieses Thema bei der Veröffentlichung in der Realität spielen würde. „A Pure Place“ wurde bereits Ende 2018 abgedreht, könnte allerdings genauso gut unter dem Eindruck der im Frühjahr 2020 begonnenen Extremlage entstanden sein – zumindest, was die Ausrichtung der fiktiven Gemeinschaft anbelangt. Nach der gruseligen Groteske „Der Bunker“ legt Chryssos erneut einen Film vor, der vor allem über seine beklemmende Atmosphäre funktioniert.

Website: https://kochfilms.de/de

Deutschland 2020
Regisseur: Nikias Chryssos
Drehbuch: Nikias Chryssos, Lars Henning Jung
Darsteller: Greta Bohacek, Claude Heinrich, Sam Louwyck, Daniel Sträßer, Daniel Fripan, Wolfgang Czeczor, Lena Lauzemis u. a.
Länge: 91 Minuten
Verleih: Koch Films, Vertrieb: Central
Kinostart: 25.11.2021

FILMKRITIK:

Eine raue, aber malerisch anmutende Insel irgendwo in der Ägäis. Wasser, Weite, in der Umgebung keine Spuren von Zivilisation. Das kleine Fleckchen Erde, auf das Chryssos die Zuschauer schon in den ersten Minuten entführt, wirkt wie der perfekte Rückzugsort vom Stress unserer lärmenden, schnelllebigen Welt. Bewohnt wird das kleine Eiland von einer religiösen Gruppe, die ehrfürchtig zu ihrem Anführer Fust (Sam Louwyck) aufschaut. Reinheit ist sein oberstes Gebot. Und in seinen Sermonen spricht der zumeist in blütenweiße Anzüge gekleidete Mann vom paradiesischen Elysion, das er seinen treu ergebenen Schäfchen zugänglich machen will.

Hinter dem schönen Schein, den Fust verstrahlt, verbirgt sich jedoch ein brutales Ausbeutungssystem. Während das Oberhaupt und seine engsten Vertrauten reichhaltig dinieren, sich intellektuell austauschen und ein Theaterstück über Fusts Qualitäten als Heilsbringer vorbereiten, müssen mehrere Kinder in einem Kellerkomplex unter unwürdigen Bedingungen eine besondere Seife herstellen, die man auf dem Festland regelmäßig feilbietet. Eben hier, im Dunkeln, hausen die Geschwister Irina (Greta Bohacek) und Paul (Claude Heinrich). Als Fust die Jugendliche ins Auge sticht, nimmt er sie kurzerhand in seinen inneren Zirkel auf und trennt sie damit von ihrem kleinen Bruder. Ein Ereignis, das nur wenig später für erste Erschütterungen sorgt.

Was nach einem handfesten Thriller-Stoff klingt, entwickelt sich in den Händen des 1978 geborenen Regisseurs zu einer mit vielen Symbolen und Anspielungen gespickten Reise in surreal-märchenhafte Gefilde. An klassischem Spannungsaufbau ist der Film nur bedingt interessiert. Vielmehr geht es darum, das bizarre Verständnis und Zusammenleben der Sekte auf atmosphärische Weise erfahrbar zu machen. Zahlreiche Motive aus der deutschen und der griechischen Mythologie finden Eingang in die Handlung. Mehrmals entschleunigt Chryssos seine Bilder. Immer wieder dröhnt es unheilvoll von der Tonspur. Und vielen Szenen haftet schon deshalb etwas Irritierendes an, weil die Figuren, besonders Fust, seltsam gestelzt reden.

„A Pure Place“ beweist, dass es nicht zwangsläufig einen engen, durchweg klaustrophobischen Schauplatz wie in der „Der Bunker“ braucht, um ein quälend-ungutes Gefühl zu erzeugen. Die Unterdrückungs- und Verführungsmechanismen innerhalb der kultischen Gemeinschaft blitzen des Öfteren auf. Dass ihre streng hierarchische, menschenverachtende Organisation bislang nicht angezweifelt wurde, liegt jedoch in erster Linie an der eigenartigen Ausstrahlung des Gurus. Obwohl Fust mit Plattitüden und simplen Versprechungen („Wer außen ist rein, der wird’s auch innen sein“) um sich wirft, hat sein Auftreten stets etwas Erhabenes und Außerweltliches. Als würde er komplett über den Dingen schweben. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang der Akzent des belgischen Schauspielers Sam Louwyck, der Fusts Worten zusätzliches Gewicht verleiht und den Anführer gleichzeitig von seinen Jüngern abhebt.

So aufregend das Charisma dieses Blenders auch sein mag, hätte sich Chryssos etwas stärker auf seine beiden jungen Protagonisten konzentrieren sollen. Der Weg zur erwartbaren Emanzipation des an Hänsel und Gretel erinnernden Geschwisterpaares Irina und Paul hat Potenzial, wird aber wiederholt von Fusts Auftritten und seiner Aura in den Hintergrund gedrängt. Bezeichnend ist nicht zuletzt, dass die Backstory des Reinheitspapstes mehr Beachtung erfährt als die Herkunft der beiden Waisenkinder. Die fehlende Fokussierung erschwert es mitunter, emotional mitzugehen, und lässt das stimmungsvolle Drama am Ende nicht ganz ausgereift erscheinen.

Christopher Diekhaus