Aktuell scheint das Abendland einmal mehr vom Untergang bedroht zu sein, stellt sich akut die Frage, ob sich die Missstände noch beheben lassen oder am besten gleich die ganze Gesellschaft verändern müsste und mit ihr auch unsere Vorstellung des Individuums. Diese und andere Fragen schwingen in „Abendland“ mit einem experimentellen Film des Videokünstler und Filmregisseur Omer Fast, der endlich einmal Angela Merkel zu einer Hauptrolle im deutschen Kino verhilft – in gewisser Weise...
Deutschland 2023
Regie & Buch: Omer Fast
Darsteller: Stephanie Amarell, Susanne Bredehöft, Berna Kilicli, Benedikt Laumann, Ivy Lißack, Sebastian Schneider
Länge: 116 Minuten
Verleih: Piffl
Kinostart: 5. Dezember 2024
FILMKRITIK:
In einem Forst, der an den Hambacher erinnert, beginnt der Film. Eine Gruppe maskierter Protestierender versucht das Fällen von Bäumen zu stoppen, zunächst scheinbar erfolgreich, doch dann eskaliert die Situation, es kommt zum Kampf, eine Protestierende, die sich mit einer Angela Merkel-Maske vermummt hat, wird von der Gruppe getrennt, fällt einen Hang hinunter – und gerät in eine scheinbare Parallelwelt.
Sie trifft auf eine Gruppe von Aussteigern, von Menschen, die sich vom System losgesagt haben und eine neue, bessere Gesellschaft aufbauen wollen. Hier tragen alle Masken, meist von Figuren aus der Pop-Kultur wie Micky Maus, Aladin oder Guy Fawkes. Versuchen, ihre wahren Identitäten aufzulösen und Teil eines großen Ganzen zu werden. Der Clou: Alle paar Tage tauschen die Gruppenmitglieder die Masken – und mit ihnen die Identitäten. Scheinbar „männliche“ Masken können dabei auch von weiblichen Gruppenmitgliedern übernommen werden und umgekehrt. Auch eine weitere Angela Merkel-Maske gibt es, die sich allerdings ganz anders verhält als die erste. Zunehmende Spannungen treten in der Gruppe auf, die Isolation macht manchen Mitgliedern zu schaffen, die Vorstellungen eines neuen, besseren Gesellschaftsvertrages erweisen sich als kompliziert.
Viele Menschen mögen genug von der langjährigen Kanzlerin Angela Merkel haben, ihre Ende November erscheinenden Memoiren dürften die Diskussion über Erfolge und Misserfolge ihrer 16 Jahre währenden Kanzlerschaft noch einmal befördern. Der Videokünstler und Filmregisseur Omer Fast benutzt Angela Merkel oder vielmehr eine Vorstellung von Merkel als Chiffre für die Austauschbarkeit von Individuen. Immer wieder spricht die Person mit der Merkel-Maske mantraartig typische Merkel-Sätze wie „Mit dem Kopf durch die Wand wird nicht gehen, da siegt zum Schluss immer die Wand“ oder „Der Staat muss fördern und darf nicht einschränken“, nichtssagende Sentenzen, die hier besonders absurd wirken.
In der nur scheinbar schönen neuen Welt der Kommune wird die Frage nach dem Individuum schließlich ad absurdum geführt. Man mag hier an eine besonders extreme Form des Kommunismus denken, in der Individuen sogar optisch nicht mehr existieren oder an eine besonders seltsame Sekte, die natürlich zum scheitern verurteilt ist.
Schon in früheren Langfilmen wie „Remainder“ und „Continuity“ hatte sich Omer Fast mit Doppelgängern, Wiederholungen und Irritationen der Wahrnehmung beschäftigt. Meist war dabei für ein Individuum die Realität aus den Fugen geraten, hier nun scheint die ganze Gesellschaft Kopf zu stehen. Hohle Phrasen werden als solche entlarvt, wohlgemerkt nicht nur die von einer Politikerin wie Angela Merkel, sondern auch die von selbsternannten Weltverbesserern und Aktivistin, die auf ihre Weise oft ähnlich anmaßend zu wissen glauben, was richtig ist, wie die Politiker oder Wirtschaftsbosse, die sie bekämpfen.
Zwischen Installation und Arthouse-Kino bewegt sich Omer Fast mit „Abendland“, erzählt einerseits stringent, ja fast schon klassisch, bleibt andererseits aber ungefähr genug, um seine Allegorie auf vielfältige, komplexe Weise interpretierbar zu machen.
Michael Meyns