Adiós Buenos Aires

Tango kann er, das bewies der in Buenos Aires geborene German Kral, der an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film studierte. Seine Doku „Ein letzter Tango“ bekam internationale Preise und lockte hierzulande 50.000 Besucher in die Kinos. Nun folgt das Spielfilmdebüt des Wenders-Schülers. Der leidenschaftliche Bandoneon-Spieler Julio will mit Mutter und Tochter das krisengeschüttelte Argentinien verlassen, um in Berlin einen Neuanfang zu wagen. Die Zufallsbegegnung mit einer aufregenden Frau sowie das Comeback einer betagten Tango-Ikone machen den Plänen einen dicken Strich durch die Rechnung. Von den politischen Unruhen ganz zu schweigen. Die knisternde Lovestory wird regelmäßig mit leidenschaftlichen Tango-Gesängen angefeuert. Ein funkelndes Filmfest (nicht nur) für Tango-Fans!

Webseite: http://www.alpenrepublik.eu/

Deutschland, Argentinien 2023
Regie: German Kral
Darsteller: Diego Cremonesi, Marina Bellati, Manuel Vicente, Rafael Spregelburd, Carlos Portaluppi, Regina Lamm

Filmlänge: 93 Minuten
Verleih: Alpenrepublik
Kinostart: 11.Mai 2023

FESTIVALS: Filmkunstmesse Leipzig 2022; Gilde Screenings Berlinale 2023

FILMKRITIK:

Mit gediegenen Tango-Klängen auf dem Bandoneon und Bildern von wütenden Demonstrationen beginnt das Liebesdrama. Anno 2001 stürzt Argentinien immer tiefer in eine Wirtschaftskrise. Julio Färber (Diego Cremonesi), der deutschstämmige Besitzer eines kleinen Schuhladens und leidenschaftliche Musiker fährt zur Botschaft, um die Reisepässe für seine Mutter und seine Tochter zu holen. Er will auswandern und in Berlin einen Neuanfang wagen. „Verrat! Einfach so abzuhauen!“, kommentiert sein Band-Kollege die Pläne. Die vierzehnjährige Tochter Paula reagiert gleichfalls wenig begeistert, hat sie doch gerade die große Liebe ihres Lebens getroffen. Julio reagiert wie gewohnt: Er sieht die Dinge mit großer Gelassenheit. Übertroffen wird er dabei nur noch vom Besitzer der Bar, in der die Proben stattfinden: Jener Esoteriker relativiert alle Probleme mit dem Blick auf die unendliche Weiten der Astronomie, Parallelwelten inklusive.

Weitaus irdischeren Problemen steht derweil Julio gegenüber. Er demoliert seinen geliebten blauen Peugeot 504, weil ein Taxi bei Rot über die Ampel fahrt. Die attraktive Fahrerin Mariela (Marina Bellati) bestreitet wortreich jede Schuld. Danach braust sie davon, zum Glück steht die Rufnummer des Taxis groß an dessen Türe. „Niemand übernimmt in diesem Land für irgendwas Verantwortung!“, klagt Julio und sieht sich in seinen Ausreiseplänen bestärkt. Mit dem Chef des Taxi-Unternehmens im Nacken, bietet Mariela kleinlaut eine Schadensregulierung an. Gegen die Zahlung in 30 Raten protestiert der Auswanderer vehement. Trotz solcher Streitereien deutet sich am Horizont der Beginn einer wunderbaren Freundschaft an, der durch den stummen Sohn der alleinerziehenden Mutter kräftig beschleunigt wird.

Bei aller Zufriedenheit mit ihrer Musik, fehlt der Kapelle dringend ein Sänger. Ein alter Song im Radio gerät zum Wink des Schicksals: Die Tango-Ikone Ricardo Tortorella (Mario Alarcón) soll angeworben werden. Pech nur, dass der Maestro mittlerweile im Altersheim sitzt und wenig Lust auf ein Comeback verspürt. „Für mich ist der Tango gestorben!“ betont der verbitterte Senior. Völlig überraschend erscheint er doch zur Probe. Mit diesem Könner an Bord wächst die Kapelle über sich hinaus. Auch das wieder so ein Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Die Achterbahn des Schicksals rattert weiter für den leidenschaftlichen Musiker. Über Nacht werden landesweit alle Bankkonten eingefroren. Sein Peugeot ist meilenweit von einer Reparatur entfernt. Mama will plötzlich nicht mehr zurück in ihre deutsche Heimat. Und seine Band verweigert den Auftritt bei einer vornehmen Party: „Für dieses korrupte Pack spiele ich nicht“, kommentiert ein stolzer Musiker. Ein einziges Mal noch auftreten, das ist der große Wunsch von Julio. Auf den Straßen eskaliert das Chaos. Noch kann die geplante Ausreise gelingen. Doch jetzt braucht es eine Entscheidung, was im Leben wirklich wichtig ist.

Mit angenehmer Leichtigkeit entwickelt German Kral seine vielschichtigen Figuren, wenige Pinselstriche genügen, um glaubwürdige Typen zu zeichnen. Ein erstklassiges Ensemble sorgt mit südamerikanischem Charme für die notwendige Empathie. Ähnlich unangestrengt werden die diversen Konflikte präsentiert: Missverständnisse in der Liebe. Pubertierende Töchter. Abgeschobene Senioren. Materielle Sorgen. Last not least ein Land im fatalen Strudel der großen Krise. Die Lage scheint ohne viel Hoffnung. Doch wenn du glaubst, es geht nicht mehr: kommen von irgendwo tröstende Tango-Klänge daher. Virtuos wird die Musik aufgeführt und souverän in die Handlung eingebaut. Songs und Story erzählen gleichermaßen von Liebe, Leidenschaft und Schmerz. Ob bei all solcher Tango-Theatralik noch ein Happy-End denkbar ist? Wie wird Stehaufmännchen Julio sich in letzter Minute entscheiden…

 

Dieter Oßwald