Anders als der Titel erwarten lässt, handelt es sich hier nicht um einen niedlichen Tier- oder Kinderfilm, sondern um eine spannende, schwarzhumorige Außenseitergeschichte, in der Fragen nach der Moral menschlichen Handelns gestellt werden.
Das 1998 in Großbritannien entstandene Drama, das nun erst in die deutschen Kinos kommt, ist eine echte Entdeckung und großes Schauspielkino: John Hurt, ein blutjunger Christian Bale und ein geradezu dämonisch böser Daniel Benzali spielen die Hauptrollen in diesem poetischen Drama, das in keine Schublade passen will.
Großbritannien 1998
Regie: Jeremy Thomas
Drehbuch: Eski Thomas
Mitwirkende: John Hurt, Christian Bale, Daniel Benzali, James Faulkner. John O’Toole, Amanda Royle, Amy Robbins
Kamera: Mike Molloy
Musik: Richard Hartley
Länge 112 Minuten
Verleih: Der Filmverleih GmbH
Start: 6. März 2025
FILMKRITIK:
Der 24-jährige, äußerst tierliebe Bobby (unvergesslich: Christian Bale), der seit einem Autounfall als Kind geistig beeinträchtigt ist, flieht vor seinem grausamen Stiefvater Bernard De Winter (Daniel Benzali) und streift als Anhalter durch die Gegend. Dabei lernt er den exzentrischen Mr. Summers (John Hurt) kennen, der ihn unter seine Fittiche nimmt. Summers wandert die Landstraßen entlang und begräbt Tiere, die von rücksichtslosen Autofahrern überfahren wurden. Die scheinbare Idylle wird durch das Auftauchen de Winters gestört, der Bobby unter Druck gesetzt hat, ihm die Anteile am Londoner Warenhaus von Bobbys verstorbener Mutter zu überschreiben. Mr. Summers‘ Versuch, sich mit de Winter zu arrangieren, führt zu einer Katastrophe.
Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Walker Hamilton entzieht sich konsequent jeder Kategorisierung. Was zunächst thematisch an eine wildromantische, möglicherweise sogar familienkompatible Abenteuergeschichte von Dickens erinnert – nach dem Motto: bemitleidenswerter Waisenjunge flieht vor einem dämonischen Unhold und findet Unterschlupf bei einem knorrigen Einsiedler – wächst sich zu einem vielschichtigen, nachhaltig irritierenden Drama aus. Zwar gibt es in dieser Geschichte einen eindeutigen Bösewicht, denn Daniel Benzalis kaltschnäuzigem, abgrundtief bösen Stiefvater würde sogar Darth Vader mit Vorsicht begegnen, aber die „Guten“, die sich ihm hier entgegenstellen, sind nicht nur die liebenswerten Tierfreunde, als die sie sich selbst präsentieren. Am Ende des Films jedenfalls ist sowohl bei Mr. Summers als auch bei Bobby kein Fitzelchen Romantik mehr übrig, und das gilt nicht nur für ihr Außenseiter-Dasein.
Auf alle Fälle bietet „All the Little Animals“ grandioses Schauspieler-Kino. Der mittlerweile verstorbene John Hurt spielt eine seiner typischen Rollen: einen geheimnisvollen, zerrissenen Charakter. Er gibt Mr. Summer, dem menschenfeindlichen Fanatiker, genug Würde, um Neugier und ein gewisses Maß an Respekt für ihn zu wecken. Christian Bale – der als Bobby im Voiceover auch die Geschichte erzählt – geht, wie man es von ihm gewohnt ist, vollkommen in der Rolle des liebenswert verstörten, gelegentlich aber auch sehr verstörendem Jungen auf. Wie er das tut, ist scheinbar unspektakulär, aber absolut stupend: einfühlsames Schauspiel der Extraklasse.
Aber wovon handelt der Film eigentlich? Sicherlich nicht unbedingt von Tierliebe, denn Mr. Summer und auch Bobby zeigen irritierenderweise gegenüber toten Tieren größeren Respekt als gegenüber lebenden. Tatsächlich geht es in dieser Geschichte wohl um Dinge, die Menschen vergraben, um einen Schlussstrich zu ziehen, was jedoch leider nicht viel nutzt, weil sie zwar nicht mehr sichtbar sind, die Menschen aber trotzdem immer weiter beschäftigen. Je länger der Film dauert, desto bedrohlicher wirkt die zauberhafte, postkartenschöne Landschaft Cornwalls, die die Kamera immer wieder einfängt. Man möchte sich gar nicht ausmalen, was alles unter diesen üppigen Wiesen, Weiden und Wäldern begraben liegt …
Die Zuordnung zu einem Genre fällt hier schwer. Am ehesten lässt sich „All the Little Animals“ noch als „Coming of Age“-Geschichte einordnen: ein Protagonist wird nicht erwachsen oder will es nicht werden, was für ihn gleichzeitig Fluch und Segen ist. Diese beabsichtigte Uneindeutigkeit ist es, die – neben der stetig weiter angezogenen Spannungsschraube – die Faszination dieses Films ausmacht. Mr. Summers, Bobby und Mr. de Winter (und alles, was diese Drei vergraben haben) werden jedenfalls ebenfalls weiter wirken, auch nachdem der Kinovorhang gefallen ist.
Gaby Sikorski