All We Imagine as Light

Zum Vergrößern klicken

In meist meditativer Gelassenheit, aber dennoch sehr intensiv erzählt die Filmemacherin Payal Kapadia in ihrem Spielfilmdebüt von drei sehr unterschiedlichen Frauen in Mumbai, die in einem Krankenhaus arbeiten. Dabei beobachtet sie die Freundschaft von Prabha, Anu und Parvati mit dokumentarisch geschärftem Blick und feiner Sensibilität, aber auch ihren Alltag in einer sehr gegensätzlichen Stadt, die von Tradition und Lebensfreude ebenso geprägt ist wie von technischem Fortschritt und Massenelend. Großer Preis der Jury in Cannes 2024 für diesen ungewöhnlichen Film!

Frankreich, Indien, Niederlande, Luxemburg 2024
Regie und Drehbuch: Payal Kapadia
Kamera: Ranabir Das
Darsteller: Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam
Musik: Dhritiman Das
Länge: 115 min.
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 19. Dezember 2024

FILMKRITIK:

Nächtliche Straßen voller Leben: geöffnete Geschäfte, reges Treiben davor und darin, brausender Straßenverkehr, dazu Off-Stimmen. Sie berichten über das Leben in Mumbai, über die Herausforderungen des Alltags in einer Stadt, der die Menschen, die da sprechen – oder zumindest einige von ihnen –, mit einer gewissen Hassliebe begegnen. Prabha, die als Pflegerin in einem Krankenhaus arbeitet, lässt sich vom Trubel und vom Gewimmel der Metropole nicht beeindrucken. Ihr Ehemann arbeitet weit weg in Deutschland, und eigentlich hatte sie ihn beinahe vergessen, als unerwartet ein Geschenk von ihm eintrifft. Prabha teilt sich ihre Wohnung mit ihrer jungen Kollegen Anu, die in allem praktisch das genaue Gegenteil von Prabha ist. Anu ist lebhaft und ein bisschen schlampig, aber vor allem ist sie verliebt. Ihre große, heimliche Liebe ist der Muslim Shiaz. Tatsächlich soll Anu bald verheiratet werden, wenn es nach ihrer Familie geht. Viel lieber wäre sie mit Shiaz zusammen, aber aufgrund seiner Religion geht das nicht. Das Pärchen ist ständig auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen. Die Dritte im Bunde ist die Köchin Parvati – sie ist Prabhas beste Freundin. Sie droht ihre Wohnung zu verlieren, weil das Haus abgerissen werden soll, wo sie seit über 20 Jahren illegal wohnt. Prabha will ihr helfen. Doch es nützt alles nichts, und Parvati beschließt, zurück in ihr Heimatdorf am Meer zu gehen, von wo sie einst als junges Mädchen aufgebrochen war, um Mumbai zu erobern. Ihre beiden Freundinnen besuchen sie dort und entdecken in der Gemeinsamkeit eine neue Art der Freiheit.

Es passiert sehr wenig in diesem Film, jedenfalls nicht im Sinne einer üblichen Filmdramaturgie. Das liegt sowohl an der allgegenwärtigen, stets beobachtenden Kamera als auch an dem dokumentarischen Blick auf das Geschehen. Die Zeit, so scheint es, gleitet dahin, und sie lässt manchmal kleine Ereignisse fallen. Payal Kapadia taucht tief ein in das Leben in Mumbai – ein Moloch von Stadt, ebenso faszinierend wie angsteinflößend. Die Bilder und das gesamte Setting wirken insgesamt unglaublich authentisch, aber auch ungewöhnlich. Man muss bereit sein, sich auf diesen Rhythmus einzulassen.

Dabei gibt es zwei, auch visuell, sehr deutlich voneinander getrennte Teile: Im ersten Teil, der in Mumbai spielt und immer auch die Stadt selbst thematisiert, dominieren bläuliche, meist dunkle Bilder. Hier ist immer etwas los, sagen die Bilder: Umzüge, Prozessionen, Feuerwerk, Feste. Das ist Mumbai – die Stadt der Illusionen, über die es im Film heißt: „Du musst an die Illusion glauben, sonst wirst du verrückt.“ Diese drei Frauen glauben an die Illusion, sie ein Teil davon, aber frei sind sie trotzdem nicht. Stattdessen sind sie immer auch Teil der Traditionen, Konventionen und Rituale, die das Leben bestimmen. Am Meer lernen die Drei eine andere Form des Lebens und des Miteinanders kennen. Aus diesem Gegensatz komponiert Payal Kapadia einen zu Teilen sehr poetischen, meditativen Film, der in seiner Gestaltung Vergangenheit und Zukunft verschmelzen lässt und den Weg in eine im wahrsten Sinne lichtvolle Richtung weist.

Gaby Sikorski