Alle wollen geliebt werden

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Die Charakterkomödie ist ein kleines Kinowunder – sehr erfreulich und für ein Kinodebüt ganz erstaunlich: Im besten französischen Boulevardstil erzählt sie eine sehr unterhaltsame Geschichte, und sie trifft nicht nur den richtigen Ton, sondern auch den Zeitgeist. Denn wer kennt sie nicht: die überforderte Mutter, die 24/7 für alle da ist, nur nicht für sich selbst. – Was die schwer gebeutelte Ina, die ausgerechnet Psychologin ist, an einem einzigen Tag durchmachen muss, reicht eigentlich für ein ganzes Leben. Das ist so komisch wie nachvollziehbar und mit leichter Hand inszeniert – mit der wunderbaren Anne Ratte-Polle in der Hauptrolle und einem insgesamt sehr guten, spielfreudigen Ensemble.

Deutschland 2023
Regie: Katharina Woll
Drehbuch: Florian Plumeyer, Katharina Woll
Darsteller: Anne Ratte-Polle, Lea Drinda, Ulrike Willenbacher, Urs Jucker, Hassan Akkouch, Jonas Hien
Kamera: Matan Radin
Musik: Moritz Krämer
Länge: 80 Minuten
Verleih: Camino
Kinostart: 08.03.2023
Website: allewollengeliebtwerden.de

FILMKRITIK:

Frau Doktor, heil dich selbst!, möchte man Ina schon nach wenigen Minuten zurufen, denn gleich zu Beginn ist klar: Diese Frau arbeitet zu viel, sie raucht sich förmlich auf und leidet darunter, aber sie ändert nichts. Ina (Anne Ratte-Polle) ist Psychologin, sie hat eine schwerstpubertierende Tochter: Elli (Lea Drinda), die sich in der Rolle der tyrannischen Prinzessin eingelebt hat und meistens entweder eingeschnappt oder übergeschnappt ist. Am liebsten spielt sie die Mutter gegen ihren Vater, Inas Ex-Mann Hannes (Jonas Hien), aus. Inas Lebensgefährte Reto (Urs Jucker) ist ebenfalls Psychologe und träumt von einer Uni-Karriere. Ina hingegen hat keine Zeit zum Träumen, denn da ist auch noch ihre Mutter Tamara (Ulrike Willenbacher): egozentrisch, launisch und anspruchsvoll. Eine gefährliche Mischung, besonders weil sie von ihrer Tochter erwartet, rund um die Uhr betüddelt zu werden. Da zählt weder der Job noch das Privatleben: Wenn Muttern ruft, hat die Tochter zu springen.

Ein einziger heißer Sommertag in Berlin lässt die Situation eskalieren: Ina ist eigentlich in der Praxis, die Patientinnen und Patienten warten auf ihre Therapiesitzungen, doch sie kommt kaum zum Arbeiten, denn vorher, zwischendurch und nachher ist sie im vollen Einsatz. Die Mutter feiert an diesem Tag ihren 70. Geburtstag, Elli will trotzdem mit ihrem Vater zum Billie-Eilish-Konzert, und Reto steht kurz vor dem Absprung an die Uni von Tampere und geht davon aus, dass Ina und Elli sich darauf freuen, ihn zu begleiten. Jedes Problem für sich und alle auf einmal, dazu die nervigen Klientinnen ... Ina merkt selbst, dass sie sich überfordert, schließlich ist sie auch nicht mehr die Jüngste und hat gesundheitliche Probleme – ein Arztbesuch steht an diesem Tag eigentlich auch noch an – aber Ina macht alles mit. Sie ist für alle da, sie kümmert sich, sie macht, sie wirbelt und hetzt, aber sie bleibt ruhig. Nicht einmal am Abend, auf Tamaras Geburtstagsfeier, kommt Ina einen Moment zum Nachdenken, denn auch hier wird sie von allen Seiten in Anspruch genommen. Und dann muss Ina auch noch alleine den Geburtstagssong für ihre Mutter singen!

Hier geht es bei aller Leichtigkeit und Komik nicht um Schenkelklopfgags oder schallendes Gelächter – es geht um die Komik im alltäglichen Wahnsinn, die Katharina Woll und der Drehbuchautor Florian Pumeyer aufgrund der intensiven Charakteristik ihres Personals auf die Spitze treiben. Die gut ausgearbeiteten Figuren sind zudem die Basis für die schnellen, coolen Dialoge, in denen der Wiedererkennungseffekt die hübschesten Blüten treibt, und damit für einen ebenso lebensnahen wie freundlichen Humor. Pumeyer und Woll schaffen viele einzelne lose Fäden in Form von kleinen Nebengeschichten, die sie nach und nach zusammenführen. Das wird auch durch die Kameraarbeit unterstützt, die sich sozusagen vom Allgemeinen auf das Besondere verlagert: Im Verlauf des Films rückt sie den Hauptpersonen immer näher. Dabei sind die einzelnen Personen wenig klischeehaft oder eindimensional gestaltet, im Gegenteil: Jeder einzelne Mensch in Inas Leben hat auch seine positiven Seiten oder ist gar liebenswert, so wie Elli, die ihre Mutter eigentlich sehr gern hat und sich um sie sorgt, auch wenn sie die arme Ina mit ihren ständigen Forderungen quält. Lea Drinda spielt die Elli als vorrangig tyrannischen Teenie, sie schreit sehr schön, ist aber auch zu leisen Tönen imstande – eine prima Leistung! Als Tamara liefert Ulrike Willenbacher einen sensationell gruseligen Auftritt. Obwohl Ina ihr gesamtes und nicht unbeträchtliches psychologisches Geschick einsetzt, beißt sie bei diesem Muttermonster auf Granit. Gegen die Mischung aus Narzissmus, autoritärem Gefasel und selbstmitleidigem Gejammer ist einfach kein Kraut gewachsen. Da wäre es gar kein Wunder, wenn der braven Tochter schließlich doch der Kragen platzt. Anne Ratte-Polle („Es gilt das gesprochene Wort“) darf hier endlich einmal ihre komische Seite zeigen. Sie ist immer höflich, rücksichtsvoll und im Umgang mit ihren Klienten geschäftsmäßig. Und obwohl es ihr gar nicht gut geht, hält sie diese Fassade aufrecht. Sie spricht meist halblaut, auch wenn sie um ihre Fassung kämpft. So wirkt sie souverän und sehr, sehr sympathisch. Sie ist der ruhende Pol in einer turbulenten, vergnüglichen Geschichte, die nicht nur an französische Dialogkomödien erinnert, sondern auch an frühe Filme von Doris Dörrie.

Gaby Sikorski