Alles außer gewöhnlich

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Vor acht Jahren landete das Regie-Duo Olivier Nakache und Éric Toledano mit „Ziemlich beste Freunde“ einen Riesenhit. In Struktur und Intention ähnelt nun auch ihr neuer Film mit dem schönen deutschen Titel „Alles außer gewöhnlich“ diesem Erfolg, ist dabei aber vor allem als notwendige Anklage an das Gesundheitssystem überzeugend.

Webseite: alles-ausser-gewoehnlich-derfilm.de

Hors normes
Frankreich 2019
Regie & Buch: Olivier Nakache & Éric Toledano
Darsteller: Vincent Cassell, Reda Kateb, Lyna Koudri, Alban Ivanov, Hélène Vincent, Aloise Sauvage
Länge: 114 Minuten
Verleih: Prokino, Vertrieb: Studiocanal
Kinostart: 5. Dezember 2019

Pressestimmen:

“Vor acht Jahren begeisterte die französische Tragikomödie “Ziemlich beste Freunde” das Publikum. Die beiden Regisseure Eric Tolédano und Olivier Nakache schaffen es mit “Alles außer gewöhnlich” erneut, ein schweres Thema mit großer Menschlichkeit und Humor zu erzählen. Diese besondere Geschichte trifft mitten ins Herz… einer der besten Filme des Jahres.” WDR

“…macht viel Spaß, ist gefühlvoll und mitreißend.” Süddeutsche Zeitung

“Ein starkes Plädoyer für die Menschlichkeit, bewegend und warmherzig, mit grandiosen Darstellern.” ZDF heute journal

“Ein sorgfältig recherchierter Film, der einen liebe- und respektvollen Blick auf alle Protagonisten wirft und dem es mit großer Wärme und Leichtigkeit gelingt, ein komplexes und gesellschaftlich hochrelevantes Thema zu erzählen. – Prädikat: Besonders wertvoll!” FBW

FILMKRITIK:

Bruno (Vincent Cassel) ist Leiter einer privaten Hilfseinrichtung, in der Menschen mit schwerem Autismus geholfen wird. Auch wenn sie nicht offizieller Teil des französischen Gesundheitssystems ist, ist Brunos Einrichtung letzte Anlaufstelle für Menschen, denen an anderen Orten nicht geholfen werden kann. Nicht nur, weil ihr Autismus so stark ausgeprägt ist, sondern weil das System es finanziell nicht rentabel macht, ihnen zu helfen.
 
Praktisch Tag und Nacht kümmert sich Bruno um seine Patienten, versucht sie in Wohneinrichtungen unterzubringen oder ihnen sogar zu einem Job zu verhelfen.
 
So etwa Joseph (Benjamin Lesieur), der bei seiner Mutter wohnt und die Neigung hat, in der Metro die Notbremse zu ziehen. Unermüdlich sucht Bruno für ihn eine Stelle, bis er endlich einen Reperaturservice für Waschmaschinen findet, der es mit Bruno probieren möchte.
 
Viel schwieriger ist der Fall des jungen Valentin (Marco Locatelli), der dazu neigt mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen und sich und andere zu verletzen. In zahllosen Heimen und Pflegefamilien hat Valentin schon gelebt, der ständige Wechsel seines Umfeldes macht es nicht leichter für ihn, doch langsam kommt auch Bruno an seine Grenzen.
 
So wie auch „Ziemlich beste Freunde“ basiert auch „Alles außer gewöhnlich“ auf einer wahren Geschichte, doch diesmal schildert das Regie-Duo Olivier Nakache & Éric Toledano das Schicksal des realen Vorbilds in fast dokumentarischer Manier. Vincent Cassell ist dabei ideal besetzt als ständig aktiver, dabei von kaum glaublicher Geduld geprägter Bruno, der ganz für seine Berufung lebt, autistischen Menschen zu helfen. Ein paar arrangierte Dates hat er zwar im Laufe des Films, die als kurze komödiantische Momente eingestreut sind, doch fast alle verlässt er vorzeitig, da ein Anruf ihn fort ruft.
 
Als dramatischer Film überzeugt das nur zum Teil, doch das ist auch nur bedingt das Anliegen von „Alle außer gewöhnlich“, der sich wie der im Oktober ins Kino kommende „Der Glanz der Unsichtbaren“ mit Menschen am Rand der Gesellschaft beschäftigt. Auf deren Nöte aufmerksam zu machen, zu zeigen, wie das System einer an sich so reichen Nation wie Frankreich oft versagt, ist ohne Frage ein hehres Anliegen.
 
Vor allem wenn es wie hier geschilderte einen so offensichtlichen Widerspruch anprangert: Kurz gesagt ist es umso schwerer einen Platz in einer Betreuungseinrichtung zu bekommen, je  größer die Notwendigkeit der Versorgung ist. Menschen mit nur leichten Fällen von Autismus sind leicht zu betreuen, schwerere Fälle verlangen nach besonders intensiver Betreuung, doch diese personalintensive Versorgung zieht keine entsprechend höheren Zahlungen der Krankenkassen nach sich. Die Folgen sind private Einrichtung wie die von Bruno bzw. dessen realem Vorbild Stephane Benhamou, die außerhalb des Systems, je nach Sichtweise inoffiziell bzw. illegal operieren und als Abschiebestation für schwere Fälle dienen. Ein absurder, unhaltbarer Zustand, der dem Film seine Brisanz verleiht. Die drohende Schließung durch das Gesundheitsamt hängt wie ein Damoklesschwert über Bruno und seiner Einrichtung.
 
So didaktisch das sein mag, so wuchtig inszenieren Olivier Nakache und Éric Toledano ihre aus dem Leben gegriffene Geschichte und haben dabei in Vincent Cassell einen in jeder Szene energiegeladenen Hauptdarsteller zur Verfügung, der in jedem Moment die Intention des Films auf den Punkt bringt: Manche sozialen Missstände sind so offenkundig haarsträubend, dass man einfach für einen Wandel kämpfen muss, koste es, was es wolle.
 
Michael Meyns