Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

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Mit der eindrucksvollen Adaption des autobiografischen Jugendromans und Weltbestsellers von Judith Kerr gelingt Oscar-Preisträgerin Carolin Link erneut großes Erzählkino. Einfühlsam zeichnet Deutschlands erfolgreichste Regisseurin ein realistisches Bild vom Leben jüdischer Flüchtlinge im Exil. Ihr Talent, kraftvolle melodramatische und poetische Sequenzen zu entwickeln, ohne dabei in Sentimentalität oder gar Kitsch abzugleiten, ist einmalig. Unterstützt von einer brillanten Schauspielerriege, angefangen von der Newcomerin Riva Krymalowski über Oliver Masucci bis hin zu Ursula Werner, entsteht eine dichte, warmherzige Inszenierung. Zudem prägt sich die atmosphärisch sehr überzeugende Bilderwelt ihrer exzellenten Kamerafrau Bella Halben ein.

Webseite: www.warnerbros.de

Deutschland, Schweiz 2018
Regie: Carolin Link
Drehbuch: Carolin Link, Anna Brüggemann
Darsteller: Riva Krymalowski, Oliver Masucci, Carla Juri, Marinus Hohmann, Ursula Werner, Justus von Dohnányi, Anne Bennent, Benjamin Sadler.
Länge: 119 Minuten
Verleih: Warner Bros. Pictures Germany
Kinostart: 25. Dezember 2019
 

FILMKRITIK:

Berlin 1933, kurz vor dem Wahlsieg der Nationalsozialisten. Außer Atem kommt die neunjährige Anna (Riva Krymalowski) zusammen mit ihrem Bruder Max (Marinus Hohmann) nachhause in die Villa am Grunewald. „Stell dir vor einige waren gar nicht verkleidet, die kamen als Nazis“, erzählt die neunjährige der Haushälterin Heimpi (Ursula Werner), die sich liebevoll um die Kinder kümmert, ganz empört. Die junge Mutter Dorothea (Carla Juri), eine bekannte Pianistin, ist gerade auf dem Weg ins Konzert. Oben im ersten Stock liegt Annas Vater Arthur Kemper (Oliver Masucci), ein berühmter Theaterkritiker und Schriftsteller, mit Grippe im Bett.

Ein Anruf verändert alles. Ein Polizist warnt die Familie vor den Nazis. Noch sitzt Anna an Papas Bett und zeigt ihm etwas besorgt ihr neuestes Bild. Sie hat schon wieder eine Katastrophe gezeichnet. Doch Papa findet das völlig in Ordnung. Schließlich kann man nur das gut malen, was man wirklich empfindet. Am nächsten Morgen freilich ist Papas Zimmer leer. Er ist verschwunden. Annas Vater, ein hellsichtiger Gegner Hitlers, ist bereits nach Prag gefahren.

Trotz Fieber verließ er Berlin über Nacht. Im ganzen Haus werden nun eilig die Koffer gepackt. Hals über Kopf muss die jüdische Familie fliehen. Ein behütetes Dasein gerät erstmals aus den Fugen. Nur ein Plüschtier darf mit auf die Reise. Und so sitzt Anna ratlos auf dem Boden ihres Kinderzimmers. Was soll sie einpacken? Das alte rosa Plüschkaninchen, mit dem sie schon so oft gespielt hat oder den neuen Stoffhund Terri, ein Weihnachtsgeschenk. Schweren Herzens macht der Hund das Rennen.

Der Abschied von der gutmütigen Haushälterin Heimpi fällt Anna besonders schwer. In der Schweiz will die Familie sich wieder treffen. Die Wiedersehensfreude in Zürich ist nicht ungetrübt. Anna fiebert wochenlang. Der Hotelaufenthalt wird zunehmend teurer. Als sie endlich gesund ist, geht es in die Berge in ein kleines Dorf. Dort im Gasthof bei Familie Zwirn ist die kleine Anna zunächst eine Außenseiterin. Auch wenn Vreni, die Tochter der Gastleute, sich mit ihr anfreundet. Der berühmte Papa findet in der Schweiz, der ersten Station des Exils, keine Arbeit.

Seine kritischen Artikel sind nicht gefragt. Die Schweizer wollen es sich mit Herrn Hitler, der inzwischen an der Macht ist, nicht verscherzen. Onkel Julius (Justus von Dohnányi), der Patenonkel Annas, kann die Familie heimlich besuchen. Er bringt schlechte Nachricht. Die Nazis haben den gesamten Besitz der Familie konfisziert. „Wahrscheinlich spielt Hitler jetzt mit meiner Spielsammlung“, vermutet Max. Und Anna sorgt sich um ihr rosa Kaninchen. „Hoffentlich ist er lieb zu ihm“.

Das gesamte Ausmaß des Grauens hat die Kinder noch nicht erreicht. Aber nach und nach bricht es herein. Hitler hat ein Kopfgeld auf den Vater ausgesetzt, erfährt Anna aus der Zeitung. Die Eltern sind gerade in Paris, um sich dort nach einer Bleibe umzusehen. Wenn an Annas zehnten Geburtstag Haushälterin Heimpi überraschend aus Berlin anruft, ist die Freude zwar groß. Als das Gespräch jedoch abrupt unterbrochen wird, die Trauer umso schmerzhafter.

Die Kinder begreifen allmählich, dass es keinen Weg zurück mehr gibt. Sich wieder auf eine neue Sprache einlassen zu müssen, schreckt sie. Als selbst in Paris alles hoffnungslos erscheint und Papa vom Selbstmord seines besten Freundes, Onkel Julius, erfährt, kommt ein Brief aus England: Papa hat sein Drehbuch über Napoleon verkauft. Sie sind erst einmal wieder gerettet und brechen nach London auf. Auf der Überfahrt will Anna es noch einmal wissen. „Wo ist unsere Heimat?“, fragt sie an Bord des Dampfschiffes.     

Die außergewöhnliche Qualität dieses bewegenden Familienfilms, nach dem gleichnamigen berühmten Jugendbuch von Judith Kerr, besteht in der unsentimentalen Genauigkeit mit der Oscar-Preisträgerin Carolin Link Annas Geschichte ernstnimmt. Die leidenschaftliche Autorenfilmerin bauscht sie nicht zu einem moralisierenden Drama auf. Dabei inszeniert die Wahlmünchnerin stilsicher und souverän Gefühle. Immer wieder verharrt die Kamera ruhig bei den Figuren, fängt subtile Mikro-Milieustudien ein. Und so erlebt der Zuschauer was die Vokabel Emigration bedeutet.

Den Verlust einer Sprache, die Angst vor Armut, die Angst auch, vor dem Terror immer weiter fliehen zu müssen. In heutigen Zeiten ein eminent politischer Film. Und wer die wahre Geschichte über Abschied, familiären Zusammenhalt und Zuversicht sieht, wünscht Anna ihr in Berlin zurückgelassenes Plüschkaninchen auf jeden Fall zurück. Denn, last but not least, erobert Newcomerin Riva Krymalowski mit ihrem verblüffenden Talent sicher die Herzen.

Luitgard Koch