Als Paul über das Meer kam

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Aus einer zufälligen Begegnung in einem Flüchtlingscamp an der Küste Marokkos entsteht ein filmisches Tagebuch über Flucht und Migration von Afrika nach Europa: Der Berliner Filmemacher Jakob Preuss gibt dem Kameruner Paul Nkamani als einem von Millionen Flüchtlingen ein Gesicht. Ehrlich wird diese intensive Dokumentation dadurch, dass Preuss in ihrem Verlauf nicht mehr nur Beobachter bleibt, sondern Position beziehen muss und selbst Teil der Geschichte Pauls wird. An seinem Beispiel blickt der Film auf viele Facetten der europäischen Flüchtlingspolitik, wägt ab und stellt Fragen, enthält sich aber einfacher Urteile.

Webseite: www.paulueberdasmeer.de

Dokumentation
Deutschland 2017
Regie: Jakob Preuss
Verleih: Farbfilm
Kinostart: 31.8.2017

FILMKRITIK:

Was verbirgt sich hinter dem Wort „Flüchtling“? Diesem Begriff, der nahezu täglich in den Nachrichten und in politischen Debatten verwendet wird? Millionen von Menschen, die vor Krieg, Hunger oder Unterdrückung auf der Flucht sind, werden in dieser einen Vokabel zusammengefasst – ohne dass dabei auch nur ein Hauch ihrer Geschichten preisgegeben würde. „Als Paul über das Meer kam“ versucht dem etwas entgegenzusetzen: Die Dokumentation erzählt von der viereinhalbjährigen Odyssee eines jungen Mannes aus Kamerun, dessen Weg schließlich in Berlin endet.
 
Der Film basiert auf einer zufälligen Begegnung. 2011 ist der Berliner Regisseur Jakob Preuss auf einer Recherchereise in Marokko, wo er sich über die Situation an der Grenze zur spanischen Exklave Melilla informiert. Mit meterhohen Zäunen und großem Polizeiaufwand wird hier die EU-Außengrenze gegen Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten gesichert. In einem der improvisierten Flüchtlingslager unweit der Küste trifft Preuss auf Paul Nkamani, beide finden Vertrauen zueinander. So verändert sich allmählich der Fokus der Dreharbeiten: Die innereuropäische Sicht auf das Grenzregime mit allen seinen Konsequenzen und Widersprüchen gerät in den Hintergrund. Stattdessen entsteht ein filmisches Tagebuch, in dessen Mittelpunkt Paul und sein Weg von Kamerun nach Europa rückt.
 
Im ersten Teil vermittelt diese sehr dichte und konzentrierte Dokumentation einen Eindruck davon, warum sich Menschen wie Paul auf den Weg machen und welchen Risiken sie sich dabei aussetzen. Allein die strapaziöse Reise durch halb Afrika ist ein gefährliches Wagnis, das nur mit viel Glück zu überstehen ist. In Algerien verdient sich Paul in dreijähriger Arbeit das nötige Geld, um die Überfahrt nach Europa bezahlen zu können. Als Preuss ihm begegnet, wartet er mit anderen Kamerunern bereits seit Monaten in einem provisorischen Camp im Wald nahe des Hafenstädtchens Nador – auf jenen entscheidenden Moment, in dem angeheuerte Schlepper das Signal zum Aufbruch geben. Bald darauf scheitert ein erster Fluchtversuch. Dann eines Morgens trifft Preuss in dem Lager Paul nicht mehr an. Gemeinsam mit anderen ist er verschwunden.
 
Der Film hätte an dieser Stelle schon zu Ende sein können. Doch Preuss entdeckt Paul auf Nachrichtenbildern im Internet. Die Überfahrt über das Mittelmeer in einem Schlachtboot endet in einer Tragödie: Auf dem steuerungslos auf hoher See treibenden Boot kommt für viele der Insassen jede Hilfe zu spät. Paul überlebt – und wird selbst schwer gezeichnet mit anderen Überlebenden von der spanischen Küstenwache gerettet. Er muss für zwei Monate in Abschiebehaft auf einer Gefängnisinsel bleiben, wo Preuss ihn ausfindig macht. Nach Pauls Entlassung mit vorübergehender Duldung finden die beiden wieder zusammen und setzen ihr filmisches Tagebuch fort.
 
Was nun folgt, ist eine zweite Odyssee – durch das Wirrwarr der europäischen Flüchtlingspolitik. Von Spanien führt der Weg über Frankreich nach Deutschland – längst hat der Regisseur seine Haltung des reinen Beobachters aufgegeben, er ist inzwischen Teil der Geschichte geworden. Durch die entstandene Nähe zwischen Protagonist und Filmemacher ergeben sich selten intensive Einblicke ins Innenleben Pauls, der zwischen Hoffen und Bangen mit ständiger Ungewissheit klarkommen muss. Wie kann er sich gegen eine immer drohende Abschiebung schützen? Soll er einen Asylantrag in Deutschland stellen? Welche Chancen, welche Perspektiven hat er in Europa?
 
„Als Paul über das Meer kam“ gibt einem von Millionen Migranten auf dieser Erde ein Gesicht. An seiner Geschichte reflektiert der Film in vielen Facetten das Dilemma der europäischen Flüchtlingspolitik: Einerseits werden die Außengrenzen hermetisch abgeschottet, andererseits gibt es keine gemeinsame Haltung zu Asyl und Integration. Jakob Preuss liefert jedoch alles andere als simple Bürokratie-Kritik. Aufrichtig und glaubwürdig wird sein filmisches Tagebuch vor allem dadurch, dass er eigene Zweifel thematisiert, dass er selbst nicht genau weiß, wie weit er Paul unterstützen kann und will. Macht er sich vielleicht sogar strafbar? Kann er die Erwartungen Pauls überhaupt erfüllen? Wie viel Platz ist für Paul in seinem Leben?
 
Auch auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten – nicht in der Realität und nicht im Film. Paul hat auf seinem Weg in vielerlei Hinsicht Glück gehabt, auch in Deutschland zeichnet sich für ihn eine Lebensperspektive als Pflegehelfer in einem Altenheim ab. Doch eine große Unsicherheit bleibt: Wie endet das Asylverfahren? Droht am Ende doch eine Abschiebung? Bis heute ist sein Fall nicht entschieden. Seine Geschichte aber lernen durch diesen eindringlichen Film hoffentlich viele Menschen kennen. Durch sie lässt sich erahnen, welche ungezählten Schicksale und Dramen sich in dem Wort „Flüchtling“ verbergen.
 
Klaus Grimberg