Anora

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In Cannes wurde ANORA mit der Palme d'Or ausgezeichnet. Die Geschichte um eine Prostituierte, die den Sohn einer reichen russischen Familie heiratet, was in einer Nacht des Chaos gipfelt, ist aber auch enorm mitreißend. Eine Art düstere Version von PRETTY WOMAN, aufgepeppt durch Humor der grimmigen Art und mit einem Look präsentiert, der an das Kino der Siebzigerjahre erinnert.

Webseite: https://www.upig.de/micro/anora

USA 2024
Regie: Sean Baker
Buch: Sean Baker
Darsteller: Mikey Madison, Paul Weissman, Lindsey Normington

Länge: 139 Minuten
Verleih: Universal Pictures
Kinostart: 31. Oktober 2024

FILMKRITIK:

Ani arbeitet als Stripperin, aber auch als Callgirl. Der reiche, verzogene Iwan lernt sie im Club kennen und engagiert sie auch für zuhause. Nach einem ersten Treffen gibt es ein zweites, danach engagiert Iwan Anis Dienste gleich für eine ganze Woche. Es ist eine Party-Woche, die von New York nach Las Vegas führt, wo der junge Mann ihr einen Antrag macht. Es wird in Vegas geheiratet, aber als Iwans Eltern davon erfahren, schicken sie ihren Handlanger Toros los, der seit Jahren dafür sorgt, Iwan aus allen Schwierigkeiten herauszuholen. Er soll dafür sorgen, dass die Ehe annulliert wird. Aber Iwan haut ab.

Autor und Regisseur Sean Baker ist eine der großen Stimmen des modernen amerikanischen Independent-Kinos. Er hatte mit Projekten wie THE FLORIDA PROJECT Erfolg und lieferte vielschichtige Filme wie TANGERINE L.A. und RED ROCKET ab. Sein Interesse gilt zumeist den Außenseitern, den Figuren, die sich nicht so recht einfügen wollen, oft auch jenen, die abseits der Norm stehen. So auch in ANORA, der als Bakers erster Film beschrieben wurde, in dem es um reiche Menschen geht. Er zeigt sie in ihrer Dekadenz, in ihrer Sorglosigkeit gegenüber jedweden Konsequenzen, während er mit Ani eine Figur hat, die nicht viel besitzt und die Chance auf mehr sieht. Dass sie Iwan liebt, glaubt man nicht. Vielleicht mag sie ihn, vielleicht ist er nur ein Ticket in ein besseres Leben.

Der erste Akt ist dabei gestaltet wie eine deftigere Version von „Pretty Woman“, mit Sexszenen, die Baker und seine Frau und Produzentin Samantha Quan ihren Stars Mikey Madison und Mark Eidelshtein vorgeführt haben, damit die sehen können, welche Positionen er im Film habe wollte. ANORA ist hier märchenhaft – bis zu einem gewissen Grad. Und dann dreht Baker auf, denn was folgt, ist eine Reise kopfüber in die Nacht, mit Toros, der für Iwan alles tut, zwei Handlangern und einer Ehefrau, die das schon bald nicht mehr sein soll. Sie alle suchen Iwan, der sich einfach aus dem Staub gemacht hat. Ex und hopp, auf zur nächsten Party. Verheiratet? Egal. Ein Sympathieträger ist das Muttersöhnchen Iwan nicht, das ist vielmehr Igor, einer der Schläger, der von Ani vermöbelt wird, aber einer von den Guten ist.

Die Sequenz, nachdem Iwan Reißaus genommen hat, ist pures Gold. Die Figuren schreien fast nur, aber das ist elektrisierend. Dynamisch, auf eine Art gedreht, bei der man nie sicher sein kann: Bleibt es komisch oder mündet die Sequenz in Tragik? Das gilt auch für den Film an sich, der die Gratwanderung immer exzellent hinbekommt, und sich am Ende als Tragikomödie über eine Frau darstellt, die die ganze Zeit stark ist, die von einem anderen Leben träumt, die am Ende aber zusammenbricht. Die Schlussszene ist faszinierend, weil Ani handelt, wie sie es gelernt hat. Ohne nachzudenken, in den Armen eines Mannes, den sie eigentlich nur beschimpft hat, und in dem sie zusammenbrechen kann. Mikey Madison liefert eine eindrucksvolle Darstellung ab. Ihre Ani ist hart, wütend, selbstbewusst, aber auch mit einer Verwundbarkeit, die den Menschen um ihr herum verborgen bleibt. Das Publikum erkennt sie, ebenso wie Igor.

Anlässlich der Premiere in Cannes sagte Baker: „ANORA ist der Titel, und niemand wird sich den Namen wirklich merken können, bis er den Film sieht. Nachdem sie ihn gesehen haben, werden sie ihn nicht mehr vergessen können.“ Er hat Recht. Sein bislang größter, aufwendigster und längster (aber sich unglaublich kürz anfühlender) Film zeugt von Bakers großem Humanismus. Es ist filmische Magie, wenn er das Komische mit dem Tragischen kreuzt und dabei etwas über das Menschsein aussagt.

 

Peter Osteried