Als Gipfeltreffen deutscher Großkünstler könnte man „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ bezeichnen, ein essayistischer Porträtfilm den Wim Wenders über seinen langjährigen Freund Anselm Kiefer gedreht hat. Und das in 3D, ein Filmformat, das wie gemacht für die expressiven Skulpturen Kiefers scheint, die Wenders in atemberaubenden Bildern zeigt.
Anselm – Das Rauschen der Zeit
Deutschland 2023
Regie: Wim Wenders
Dokumentarfilm
Länge: 93 Minuten
Verleih: DCM
Kinostart: 12. Oktober 2023
FILMKRITIK:
Einige Male hat Wim Wenders schon in 3D gedreht, vor allem bei der Dokumentation „Pina“ und dem Spielfilm „Die schönen Tage von Aranjuez“, aber so zwingend wie diesmal war die Wahl dieser speziellen Technik noch nie. Wie kein anderer deutscher Regisseur experimentiert Wenders mit der 3D-Technik und ihren ästhetischen Chancen und Möglichkeiten. Eine Lust am visuellen Experiment, die sich auch in seiner neuen Dokumentation „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ zeigt, einer der besten seiner Karriere.
Vor allem an zwei Orten wurde gedreht, im südfranzösischen Barjac, wo Kiefer Anfang der 90er Jahre ein 40 Hektar großes Areal bezog, das er im Laufe mehrerer Jahrzehnte zu einem spektakulären Gesamtkunstwerk verwandelt hat, und einem riesigen Atelier, eher eine Lagerhalle, in einem Vorort von Paris, wo Kiefer seit einigen Jahren lebt und arbeitet.
Hier entstehen die riesigen Werke, die oft meterhohen Leinwände, die Kiefer mit der Hilfe mehrerer Assistenten zum Teil mit einer Art Flammenwerfer behandelt, mal mit Blei beträufelt, mal mit Asche bestreut.
Düster wirken diese Gemälde, an denen oft Hemden oder andere Kleidungsstücke hängen, was die Zweidimensionalität der Leinwände aufbricht. Weiteres essentielles Element ist die Schrift, Zitate aus der Bibel oder der deutschen Mythologie, Verweise an die Gedichte Paul Celans oder Ingeborg Bachmanns, zwei Dichter, die auch im Film zu Worte kommen.
Denn Wenders verzichtet zwar auf eine konventionelle biographische Form, hakt nicht penibel die Lebensstationen Kiefers ab, aber geht auf prägende Momente ein. Altes Dokumentarfilmmaterial sieht man da bisweilen in einem Fernseher aus den 70ern oder auf ein Bettlaken in den Wäldern Barjacs projiziert. Der junge Kiefer ist hier zu sehen, mal mit seinem Lehrer Joseph Beuys, der ihn im künstlerischen Drang nach der großen Geste bestätigt haben mag, mal den Schüler Kiefer, der schon als 18jährigen einen Preis für ein zeichnerisches Projekt über Vincent van Gogh erhielt.
Auch Kiefer kommt zu Wort, weniger in typischen Interviewszenen, als im Voice Over, das einen Einblick in seine Gedankenwelt gibt. Als jüngere Versionen des Künstlers sind zudem sein Sohn Daniel und Wenders Großneffe Anton zu sehen, in ausnahmsweise gelungenen Nachstellungen.
1945 wurde Kiefer geboren, ist also ein Kind der Nachkriegszeit, das sich immer wieder mit dem Nationalsozialismus, dem Holocaust, der deutschen Schuld beschäftigt hat. Dass er sich dabei oft auf die deutsche Mythologie bezog, von den Nationalsozialisten instrumentierte Künstler als Vorbilder heranzog trug ihm viel Kritik ein. Vielleicht auch ein Grund für Kiefer, das Land zu verlassen und seit Jahrzehnten in Frankreich zu leben. Auch Wim Wenders ist in seiner Heimat oft nicht wohlgesonnen, wird oft als altmodisch betrachte, mit zu großem Hang zum Pathos. Doch wie sein herausragender Dokumentarfilm „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ hat Wenders mit Ende 70 noch eine größere Neugier, eine größere Lust an stilistischen und erzählerischen Experimenten, als die meisten jüngeren deutschen Regisseure.
Michael Meyns