„Armand“ ist vieles: eine böse Komödie, ein exzellenter Schauspielerfilm, ein groteskes Psychodrama – kurz und gut: Arthouse-Kino vom Feinsten.
Im Fokus steht eigentlich die Auseinandersetzung an einer Grundschule, in den zwei sechsjährige Jungen verwickelt sind. Möglicherweise ist einer der beiden, der kleine Armand, sogar sexuell übergriffig geworden. Doch je länger die eilig herbeigerufenen Erziehungsberechtigten mit der Klassenlehrerin und dem Direktorenteam sprechen, desto weniger geht es um den Vorfall selbst. Stattdessen sitzt Armands alleinerziehende Mutter auf der Anklagebank.
Der Regisseur und Autor Halfdan Ullmann Tøndel, ein Enkel von Ingmar Bergman und Liv Ullman, arbeitet in seinem vielfach preisgekrönten Film kunstvoll mit einem Plot, der immer wieder neue Wendungen bietet und gesellschaftliche Normen ad absurdum führt. Und das ist ebenso irritierend wie erfrischend.
Webseite: https://www.pandorafilm.de/filme/armand.html
Norwegen 2024
Regie: Halfdan Ullmann Tøndel
Drehbuch: Halfdan Ullmann Tøndel
Mitwirkende: Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Endre Hellestveit, Øystein Røger, Janne Heitberg, Thea Lambrechts Vaulen
Kamera: Pål Ulvik Rokseth
Musik: Ella van der Woude
Länge 117 Minuten
Verleih: PANDORA FILM Verleih
Start: 16.01.2025
FILMKRITIK:
Nach einer halsbrecherischen Autofahrt erreicht die Schauspielerin Elisabeth (Renate Reinsve) die Schule ihres sechsjährigen Sohnes Armand. Dort findet sie sich in einer Art Tribunal wieder: Ihrem Sohn wird vorgeworfen, seinen Freund und Mitschüler Jon sexuell belästigt oder ihm gar Gewalt angetan zu haben. Die Lehrerinnen und der Direktor der Schule haben Angst, in dieser heiklen Sache auch nur den kleinsten Fehler zu machen. Doch niemand weiß, was tatsächlich vorgefallen ist. Die „Verhandlung“ die eigentlich keine sein soll, nimmt immer mehr absurde, geradezu kafkaeske Züge an. Und dann stellt sich auch noch heraus, dass es eine private Verbindung zwischen den beiden Familien gibt. War am Ende doch alles ganz anders?
„Armand“ ist zuallererst einmal eine darstellerische Tour de Force der Ausnahmeschauspielerin Renate Reinsve. Der Film ist ganz auf sie und ihre Schauspielkunst zugeschnitten. Tatsächlich gelingt es ihr, von Anfang an die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Figur der Elisabeth zu ziehen, eine erfolgreiche Schauspielerin, die vor einiger Zeit Witwe geworden ist: Wie eine Löwin kämpft sie für ihren Sohn. Jons Mutter Sarah, eine veritable Giftschlange, die mit ihrer unterschwelligen Gemeinheit die Schulleitung manipuliert, wird dabei zu ihrer Hauptgegnerin. Ellen Dorrit Petersen spielt die Sarah wunderbar fies in ihrer unangenehm verklärten Mutterrolle. Bei Elisabeth, mit der Sarah einst befreundet war, sorgt sie damit immer wieder für Irritationen. Elisabeth selbst ist eine Frau mit vielen und durchaus irritierenden Geheimnissen – eine liebevolle Mutter, aber auch hypersensibel und um Anerkennung bemüht. Renate Reinsves Performance gipfelt in einem mehrminütigen freiwillig-unfreiwilligen Lachanfall. Elisabeth kann sich angesichts der absurden Anklagen, denen sie sich gegenüber sieht, nicht mehr beherrschen und ungeachtet der Tatsache, dass ihr Gelächter vollkommen unangemessen ist, kann sie nicht damit aufhören. Hier zieht Renate Reinsve alle Register, ohne jedoch ihre handwerkliche Virtuosität in den Vordergrund zu stellen: Das ist Schauspielkunst vom Allerfeinsten.
Dieser schauspielerische Höhepunkt nach etwa einem Drittel des Films markiert gleichzeitig eine Zäsur in der Filmeerzählung. Von nun an wehrt sich Elisabeth mit ihren eigenen Mitteln, und der Film wird deutlich psychologisierender, aber auch surrealer. Die Kamera kriecht in die Gänge und Nischen der Schule wie in die Gesichter der Beteiligten. Die Schule wird zum Spiegel der Gesellschaft. Doch es geht auch um Ursachenforschung und immer mehr um die Beziehung zwischen den Eltern des kleinen Jon und Elisabeth, wobei auch ihr verstorbener Mann eine nicht ganz unwichtige Rolle spielt. Dennoch bleibt vieles rätselhaft und irritierend. Halfdan Ullmann Tøndel denkt gar nicht daran, einfache Lösungen zu präsentieren. Dafür ist die Welt, die er präsentiert, viel zu absurd. Aber ein bisschen versöhnlich wird er dann doch noch: Ganz am Ende kommt der große Regen, der alle Beteiligten – vielleicht – reinwäscht von dem, was sie angerichtet haben.
Gaby Sikorski