Asche ist reines Weiß

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Fast ein wenig langweilig ist es, die Filme von Jia Zhang-Ke Meisterwerke zu nennen, doch was will man machen? Auch „Asche ist reines Weiß“, der neunte Spielfilm des bedeutendsten chinesischen Regisseurs der Gegenwart, ist überwältigend, episch und tief berührend. Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs China erzählt Jia diesmal von einer unglücklichen Liebe, die auch an den Mythen des Kinos scheitert.

Webseite: www.neuevisionen.de

Jiang hu er nu
China 2018
Regie & Buch: Jia Zhang-Ke
Darsteller: Zhao Tao, Liao Fan, Xu Zheng, Casper Liang, Feng Xiaogang, Diao Yinan
Länge: 136 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 28. Februar 2019

FILMKRITIK:

In den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts spielt die Geschichte von „Asche ist reines Weiß“, von 2001 bis zum Neujahrstag 2018, eine Ära, in der China einen enormen Wandel durchlief, zur wirtschaftlichen Großmacht wurde, was einschneidende ideologische und moralische Veränderung nach sich zog.
 
Hauptfigur ist Qiao (Tao Shao), die in der Provinz lebt und den lokalen Gangster Bin (Liao Fan) liebt. Bei einem Angriff durch eine feindliche Gang kommt es zu einem Schusswechsel, Qiao greift zur Waffe, um Bin zu beschützen und wird verhaftet. Ihren Geliebten verrät sie nicht und so wird sie zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Als sie 2006 entlassen wird hat sich China radikal verändert, der Übergang zum Kapitalismus verändert alle Aspekte des Landes, nur Qiaos Liebe zu Bin ist die gleiche geblieben.
 
Doch Bin ist längst weitergezogen, hat sich in den Strudel der neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten gestürzt, agiert nicht länger als Gangster, sondern als Geschäftsmann – die Unterschiede sind fließend – und hat natürlich auch eine neue Frau. Qiao macht sich auf die Suche: Nach Bin, aber vor allem auch nach sich selbst und ihrem Platz in einer sich radikal verändernden Welt, in der Bauprojekte wie der Drei-Schluchten-Damm ganze Landstriche verändern können.
 
In jener Gegend hatte Jias „Still Live“ gespielt, sein international größter Erfolg, für den er 2006 den Goldenen Löwen gewonnen hatte. In „Asche ist reines Weiß“ verwendet Jia zum Teil auch grobes Digital-Material, das er Anfang des Jahrtausends bei Recherchereisen gedreht hatte. Diese dokumentarischen Aufnahmen im fast quadratischen 4:3-Format kontrastieren nun besonders mit den vom französischen Kameramann Eric Gautier gedrehten Bildern der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart und deuten zusätzlich die Veränderungen Chinas an. Diese sind nicht nur in der radikalen Umwälzung der Natur, der Städte, des Wirtschaftssystems zu spüren, sondern auch in der Ideologie und der Moral.
 
Schon früh deutet Jia hier den Einfluss des Kinos auf das Verhalten der jungen Männer, der angehenden Gangster an. Immer wieder ist Sally Yeh melancholischer Titelsong aus John Woos legendärem Gangsterepos „The Killer“ zu hören, dessen beidhändige Schießereien Vorbild für unzählige Filme war - und hier bald in die Realität einfließt. Von den Illusionen des Kinos geprägt agieren die jungen Gangster losgelöst von der Realität, in der sie zunehmend von einer anderen Illusion beeinflusst sind, dem Versprechen auf Wohlstand und Glück, der nicht nur in China durch den Vormarsch des Kapitalismus Einzug hält.
 
Ohne die Parallelen zwischen Gangsterwesen und Raubtierkapitalismus überdeutlich zu machen, deutet Jia die Folgen an, die beide für das Land und seine Menschen haben. Auch wenn Qiao langsam wieder auf die Füße fällt, mit List und Tücke selbst zu einer Anführerin einer Gang wird: So glücklich wie in den ersten Momenten des Films ist sie nie wieder zu sehen. Doch vielleicht war auch dieser kurze Moment nur eine Illusion, denn die Melancholie ist Jia Zhang-Kes Meisterwerk „Asche ist reines Weiß“ vom ersten Moment an eingeschrieben.
 
Michael Meyns