Atomkraft Forever

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Sellafield, Harrisburg, Tschernobyl, Fukushima. Die Historie der Störfälle in Atomkraftwerken ist fast so lang wie ihre Geschichte. Immer wieder schrammte die angeblich sichere und saubere Atomindustrie um Haaresbreite am Inferno vorbei. Und schon nimmt der Atomkurs im Schatten der Coronakrise, trotz verordnetem Ausstieg, wieder Fahrt auf. Umso wichtiger die sehr sachliche und zurückhaltende Doku von Regisseur Carsten Rau mit dem provozierendem Titel. Sie zeigt die Dimensionen der Gefährlichkeit der Atomenergie, den ungeheuerlichen Aufwand des Rückbaus von Atomkraftwerken und die nach wie vor ungelöste Frage der Entsorgung des über Millionen Jahre verstrahlten Atommülls in einem Endlager.

Webseite: www.camino-film.com

Deutschland 2020
Regie: Carsten Rau
Buch: Carsten Rau
Länge: 94 Minuten
Verleih: Camino Filmverleh
Kinostart: 16.9.2021

FILMKRITIK:

Auf das Kurzzeitgedächtnis von Menschen ist Verlass. Die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima liegt inzwischen fast zehn Jahre zurück, der Super-GAU von Tschernobyl über dreißig Jahre. Und Harrisburg oder Sellafield ist den wenigsten noch ein Begriff. Das ganze Ausmaß dieser Katastrophen blieb der Öffentlichkeit meist verborgen. Sie wurden vertuscht, verheimlicht oder verharmlost. Und plötzlich scheint die Hochrisikotechnik mit ihren dauerhaften Folgen für Mensch und Umwelt in Deutschland wieder salonfähig, die verschleppte Energiewende kein Thema mehr.

Der sehr sachlichen und zurückhaltenden Doku von Regisseur Carsten Rau mit dem provozierenden Titel kommt da im richtigen Moment. Ihr gelingt es, ohne Dramatisierung zu überzeugen. Ihr nüchterner Blick macht beispielhaft beim Abbau des AKWs in Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern die Gefahren der Atomenergie eindringlich sichtbar. Ganze Gebäudeblöcke sind verstrahlt, bei jedem Aufbohren von Beton können radioaktive Staubpartikel eingeatmet werden. Der Aufwand dieses Rückbaus der atomaren Ruine ist absurd.

Allein in Greifswald kommen 600.000 Tonnen an Beton, Stahl, Eisen, Aluminium zusammen. 1,8 Millionen Tonnen Material müssen gereinigt werden. Ein wahrer Kraftakt, auch in finanzieller Hinsicht. Die Container mit dem radioaktiven Material stapeln sich in blauen Schiffscontainern zu 20 bis 30 Tonnen in den Hallen. Als „Sonne in Menschenhand“ wurde der marode Reaktor einst gepriesen. „Das Atom sei Arbeiter und nicht Krieger" – so lautet ein sozialistischer Slogan aus den 70er-Jahren. Damals wurde das Kernkraftwerk Greifswald in Betrieb genommen.

Regierung, Arbeiter und Forscher träumten im Einklang von der friedlichen Nutzung der Atomkraft, für den Wohlstand und die Gleichheit der Völker. Und auch Greifswald war kein sicherer Atommeiler. Durch einen großen Brand im Maschinenraum Ende 1975 kam es fast zu einem GAU. Ende November 1989 geriet ein simulierter Störfall außer Kontrolle, als die automatische Schnellabschaltung versagte. Dadurch kam es zu einer gefährlichen Überhitzung mehrerer Brennelemente. Eine Kernschmelze stand kurz bevor.

Trotzdem denkt man im bayrischen Dorf Gundremmingen wehmütig an die strahlenden Zeiten des AKWs zurück. Ein Bild wie aus dem Hochglanzprospekt der atomaren Energiekonzerne zeigt die stillgelegten Kühltürme eingerahmt von Rosenbeeten aus dem Vorgarten des ehemaligen Bürgermeisters. Die Gemeinde wurde reich. Die Atomlobby, vom Staat subventioniert, spülte Geld in die Kassen. Sogar Eigentumswohnungen in München wurden angekauft. Eine aufwendige Sporthalle gebaut.

Auch wenn den Bauern ihr Land damals für drei Mark pro Quadratmeter abgehandelt wurde. Widerstand regte sich keiner. Wer daran verdient, wie die Wirtin im Ort, hängt dem Traum vom billigen sicheren Strom nach. Für sie gehören Kühe und Kühltürme zum Heimatgefühl. Und so vermittelt diese Sequenz der Doku die heile, ländliche Idylle. Dass natürlich auch das AKW Gundremmingen seine Störfälle hatte, die der Bevölkerung oft verschwiegen wurden, kommt nicht zur Sprache. Ein Kommentar aus dem Off dazu wäre vielleicht doch nicht ganz verkehrt. Wie sehr mit Atomkraft durch Unterstützung des Staates Geld zu verdienen war, klingt zumindest durch.

„Deutschlands lächerlicher Atomausstieg wäre heute nicht mehr tragbar“, verkündet ein französischer Atomingenieur aus dem Plutonium-Forschungslabor im südfranzösischen Cadarache überzeugt. Er hält das Ganze für ein Wahlmanöver, das Deutschland teurer kommt als die Wiedervereinigung. Ein Statement, das auf den ersten Blick, Atombefürwortern in die Hände spielt. Wenn die jungen französischen Nuklearphysiker, hippe Millenials, fast poetisch von der Atomkraft schwärmen, zeigt sich wie die schillernd faszinierende Chimäre dieser Technologie bereits wieder wirkt. Der Fortschrittsglaube aus den Anfängen lebt.

Erst ein Blick auf die ungelöste Frage der Endlagerung rückt das Bild wieder etwas zurecht. Kein Land der Welt fand bisher ein sicheres Endlager für hochradioaktiven Müll aus AKWS. Die neugegründete Bundesgesellschaft für Endlagerung aber soll es richten. Junge Geologinnen versuchen dort Gletscherbewegungen für Millionen von Jahren vorherzusehen. Denn schließlich wollen sie einen Ort finden, der über zehn Eiszeiten hinweg sicher sein soll. Kein noch so leiser Zweifel plagt sie bei dieser realistisch betrachtet unlösbaren Aufgabe.

Die Standortsuche hat freilich schon begonnen. Kein Bundesland ist scharf auf den verstrahlten Müll. Selbst Bayern, das sich einst unter seinem Ministerpräsidenten und ehemaligen Atomminister Strauß, für die umstrittenen WAA angedient hatte, will sich den bayerischen Wald nicht verseuchen lassen. Wenn dann der nimmermüde Sprecher Jochen Stay von „ausgestrahlt.de“ zu Wort kommt, schärft er mit seiner langjährigen Erfahrung das kritische Bewusstsein um den Fiebertraum Atom. Und last but not least steht ein Elefant im Raum: Wer Atomwaffen will, braucht Atomkraftwerke. Denn ohne Brennstoffwirtschaft auch kein Atomwaffenmaterial. Bekanntlich dient die französische Plutoniumfabrik in La Hague - die sogenannte Wiederaufarbeitungsanlage - vorrangig militärischen Zwecken.

Luitgard Koch