Auf trockenen Gräsern

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Viel Zeit lässt sich der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan gerne für seine Filme, auch sein jüngstes Werk „Auf trockenen Gräsern“ dauert über drei Stunden, in denen auf den ersten Blick wenig, aber doch sehr viel passiert. Im tiefsten Anatolien spielt der Film, der einen Lehrer zeigt, der es mit seinen kurdischen Schülern gut meint – bis ein Ereignis den Misanthropen in ihm weckt. Ein vielschichtiger, reicher Film, der zu den besten in Ceylans ohnehin brillantem Werk zählt.

Türkei/Frankreich/Deutschland/Schweden 2023
Regie & Buch: Nuri Bilge Ceylan
Darsteller: Deni̇z Celi̇loğlu, Merve Di̇zdar, Musab Eki̇ci̇, Ece Bağci, Erdem Şenocak, Yüksel Aksu, Müni̇r Can Ci̇ndoruk, Onur Berk Arslanoğlu,

Länge: 197 Minuten
Verleih: eksystent
Kinostart: 16. Mai 2024

FILMKRITIK:

Im Osten der Türkei, in einer Kleinstadt mit großer kurdischer Bevölkerung, unterrichtet der Lehrer Samet (Deniz Celiloglu). Ein Traumjob ist der Posten in der Provinz zwar nicht, dennoch behandelt Samet seine Schüler mit Sympathie, gerade weil ihm bewusst ist, dass die kurdischen Kinder in der Türkei wenig Chancen haben, etwas aus ihrem Leben zu machen. Doch eines Tages beschuldigt ausgerechnet seine Lieblingsschülerin Sevim (Ece Bagci) ihn und seinen Kollegen und Mitbewohner Kenan (Musab Ekici), sich falsch verhalten zu haben. Anschuldigungen, die schnell das Ende der Karriere bedeuten können. Parallel dazu lernt Samet Nuray (Merve Dizdar) kennen, die an einer anderen Schule unterrichtet. Wirkliches Interesse an Nuray entwickelt Samet jedoch erst, als Kenan ihr Avancen macht.

Im Laufe von inzwischen neun Filmen hat Nuri Bilge Ceylan einen filmischen Stil entwickelt, der ihn im zeitgenössischen Kino zu einem der prägnantesten Autoren macht. Vom ersten Moment an, wenn man in „Auf trockenen Gräsern“ eine einsame Figur sieht, die sich mühsam durch eine Schneelandschaft kämpft, gefilmt in einer langen Einstellung, weiß man, dass man sich in einem Film des türkischen Regisseurs befindet. Und so geht es weiter. In langen Dialogpassagen werden Fragen und Themen mehr umkreist und angerissen als auf den Punkt gebracht, formt sich ein Bild der türkischen Gesellschaft, der fragilen Situation Anatoliens, wo gelegentlich auftauchende Militärfahrzeuge andeuten, dass der Bürgerkrieg zwischen Türken und Kurden keineswegs beendet ist.

Eine typische Ceylan-Figur ist auch Samet, ein auf den ersten Blick sympathischer, wenn auch etwas verschlossener Mann, der das Beste aus seiner Situation zu machen versucht, seinen Groll, sein misanthropisches Wesen, aber nur mühsam zurückhalten kann. Ein Ereignis, das als deutlicher Kommentar zur Problematik der Cancel Culture zu sehen ist, verändert das bis dahin einnehmende Wesen Samets von Grund auf.

Zunehmend lässt er seine Wut an seinen Schülern aus, hadert mit seiner Situation, die ihn dazu zwingt, fern der Metropolen und dem ihrem Kulturleben, im tiefen Anatolien zu unterrichten. Und dabei immer zu wissen, dass seine kurdischen Schüler kaum eine Chance haben, sich aus den Bedingungen, in denen sie leben, zu befreien.

Im besten Sinne anstrengend und fordernd ist das Kino von Nuri Bilge Ceylan, das oft eher an einem Roman erinnert, das mäandert, hier mal in die Tiefe geht, dort philosophische Gedanken zulässt und nicht einer straffen drei Akt-Struktur folgt, in der es Hindernisse zu bewältigen gibt und alles auf eine finale Katharsis zuläuft. Auch „Auf trockenen Gräsern“ verlangt, dass man sich auf ihn einlässt, sich mehr als drei Stunden Zeit nimmt, um in eine Welt einzutauchen, um einen Mann zu begleiten, der nicht wirklich sympathisch ist, der Ecken und Kanten hat, aber gerade deswegen eine bemerkenswerte Figur in einem herausragenden Film ist.

 

Michael Meyns