Averroès & Rosa Parks

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Letztes Jahr gewann der französische Regisseur Nicolas Philibert für „Auf der Adamant“ den Goldenen Bären, in diesem Jahr wurde auf dem Festival der zweite Teil einer geplanten Trilogie über Formen des Umgangs mit psychisch Kranken gezeigt. Ein härterer, weniger leicht zu goutierender Film ist „Averroès & Rosa Parks“ dabei geworden, gegen der den Vorgänger fast bukolisch wirkt.

Frankreich 2023
Regie: Nicolas Philibert
Dokumentarfilm

Länge: 143 Minuten
Verleih: Grandfilm
Kinostart: 25. Juli 2024

FILMKRITIK:

Manche Patienten kennt man von der Adamant, jenem am Ufer der Seine liegenden Hausboot, das als Anlaufstelle für psychisch kranke Menschen dient, die dort ihre Tage verbringen, sich mit Kunst beschäftigen, mit Mitarbeitern austauschen können. Hier konnten die Patienten abends nach Hause gehen, führten ein weitestgehend selbstständiges Leben, im Gegensatz zu den Patienten des Hôpital Esquirol, auf Deutsch Hospiz zu Charenton, das etwas außerhalb von Paris liegt.

Eine Flugaufnahme zeigt zu Beginn die ausladende Anlage, die von einem Mitarbeiter des Krankenhauses mit einem Gefängnis verglichen wird. Ein kleiner, beiläufiger Moment, der leicht überhört werden kann, aber doch zum Kern von Philiberts Ansatz führt. Unweigerlich muss man hier an Michel Foucault denken, der sich zum einen in „Überwachen und Strafen“ mit den architektonischen Strukturen des Gefängnisses beschäftigt und aufgezeigt hat, wie diese Überwachungsarchitektur auch die Psyche der Insassen beeinflusst. Zum anderen aber vor allem ausführlich über den Umgang mit psychisch Kranken geschrieben hat, nicht zuletzt über die Frage, wer eigentlich entscheidet, wann jemand als psychisch krank bezeichnet wird.

Auf irgendeine Weise definiert jede Gesellschaft, was als „normal“ gilt und bewertet anhand dieses zwangsläufig willkürlichen Maßstabes, wer als „anders“, „anormal“ oder, um sehr langsam aus dem Sprachgebrauch verschwindende Begriffe zu verwenden, „gestört“ oder „schwachsinnig“ betrachtet wird.

Früher wurden solche Menschen weggesperrt, den Blicken der Gesellschaft entzogen, allerdings oft unter unmenschlichen Bedingungen. Dokumentarfilme wie Frederick Wisemans legendärer „Titicut Follies“ haben diese Abgründe aufgedeckt, Philibert bewegt sich in dieser Tradition, bedient sich ähnlicher stilistischer Mittel und Ansätze. Betont unspektakulär und zurückhaltend ist seine Kameraführung, die meist einen Dialog zwischen Arzt und Patient zeigt, gelegentlich auch eine Gruppensitzung, punktiert von Aufnahmen des Krankenhauses, von langen Korridoren oder Kreuzgängen, die kurze Momente des Durchatmens, des Luftholens ermöglichen.

Denn die oft langen, sehr intensiven Dialoge zwischen Arzt und Patienten gehen ans Eingemachte. Unterschiedlich schwere psychisch Kranke kommen zu Wort, die mehr oder weniger lange in Behandlung waren und nun wieder in die Gesellschaft integriert werden sollen. Was bei manchen mehr, bei anderen deutlich weniger realistisch erscheint, angesichts tiefsitzender Paranoia oder dem Drang, sich selbst zu verletzen.

Hier die Hoffnung nicht aufzugeben fällt nicht leicht, nicht immer gelingt es den Ärzten dabei freundlich und empathisch zu bleiben, was andererseits auch nur zu verständlich wirkt. Herrschte bei „Auf der Adamant“ trotz allem noch eine optimistische Stimmung vor, überwiegt in „Averroès & Rosa Parks“ zwar nicht der Pessimismus, aber doch ein Realismus, der die schwere der Krankheiten nicht bagatellisiert. Einfache Lösungen sind hier nicht zu finden, dafür aber viele Ärzte, die ihr Bestes tun und die allein dadurch weit entfernt von den Welten sind, die Foucault einst beschrieben hat.

 

Michael Meyns