Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten

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Purer Narzissmus sind die zweieinhalb Stunden von „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“, vielleicht der letzte Film des vielfachen Oscar-Gewinners Alejandro G. Iñárritus, der hier auf fast masochistische Weise um sich selbst, seinen Erfolg, sein Leben zwischen Mexiko und den USA kreist und dabei zusammen mit seinem Kameramann Darius Khondji teils atemberaubende kreiert, die in den besten Momenten pures Kino sind.

Mexiko 2022
Regie: Alejandro G. Iñárritu
Buch: Alejandro G. Iñárritu, Nicolás Giacobone
Darsteller: Daniel Giménez Cacho, Griselda Siciliani, Ximena Lamadrid, Iker Solano, Luz Jiménez, Luis Couturier, Andrés Almedia

Länge: 159 Minuten
Verleih: Netflix
Kinostart: 17. November 2022

FILMKRITIK:

Ein Schatten über der Wüste, er beginnt zu laufen, stößt sich ab und beginnt zu fliegen. So beginnt Alejandro G. Iñárritus „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“, der schon im Titel auf doppelte Weise andeutet, dass er in einer Welt zwischen Phantasie und Realität stattfindet, in einer Zwischenwelt, dem Bardo der tibetanischen Mythologie.

Wer sich im Reich zwischen den Lebenden und den Toten befindet ist Silverio (Daniel Giménez Cacho), ein mexikanischer Journalist und Dokumentarfilmregisseur, der seit Jahren in Los Angeles lebt hat und dort als erster Mexikaner einen wichtigen Journalistenpreis erhalten soll. Vorher war er zusammen mit seiner Familie ein paar Tage in der alten Heimat, die ihm inzwischen fremd geworden ist. Vielleicht ist es aber auch er selbst, der seine alten Werte verraten hat und sich vom amerikanischen Kapitalismus verführen ließ.

Und auch auf privater Ebene kämpft Silverio mit Zweifeln: Vor Jahren haben er und seine Frau Lucia (Griselda Siciliani) ihr drittes Kind Mateo kurz nach der Geburt verloren, ein traumatischer Moment, der zu einem der bizarrsten Momente eines an bizarren Bildern nicht armen Film führt: Als Mateo aus seiner Mutter schlüpft wirft er einen Blick auf die Welt, hält sie für zu kaputt und verlangt, zurück in den Mutterlaib geschoben zu werden.

All das spielt in einer Welt, in der der US-Konzern Amazon gerade den mexikanischen Staat Baja California gekauft hat, Flüchtlingsströme die Wüste zwischen Mexiko und den USA durchwandern und Silverio versucht, mit sich und seinem Verhältnis zur mexikanischen Geschichte ins Reine zu kommen.

Für besondere Subtilität war Alejandro G. Iñárritu noch nie berühmt, seit er vor 22 Jahren mit seinem Debüt „Amores Perros“ auf der Bühne des internationalem Kinos aufschlug. Mit Filmen wie „Babel“ oder „21 Grams“ verhandelte er existenzialistische Fragen und gewann mit „Birdman“ und „The Revenant“ als erster Regisseur seit John Ford Regie-Oscars in aufeinanderfolgenden Jahren.

Sein siebter Film ist nun sein „8 ½“, bezugnehmend auf Federicos Fellinis autobiographischen Film über einen Regisseur, der in ein kreatives Loch gefallen ist und nach einem Ausweg aus der Schaffenskrise sucht. Ob „Bardo“ diesen Effekt für Iñárritu hat wird sich zeigen, manche Aussagen des Regisseurs lassen sich dahingehend lesen, dass dies das Ende seines filmischen Schaffens sein könnte. Zumindest ist es der Film, der auch eingefleischten Iñárritu-Verehrern das Leben schwer macht, allzu sehr scheinen die langen, in oft atemberaubenden Plansequenzen gefilmten Sequenzen kaum mehr zu sein als eine eitle Nabelschau. Allein eine Szene, in der sich Iñárritu via seines Alter Egos Silverio an den Boden Nageln lässt, ließe sich allzu leicht als schwere narzisstische Störung lesen: Wenn ein Regisseur sich mit Jesus vergleicht, scheint das Ende nahe.

Und dennoch: Auch wenn man einerseits nur den Kopf schütteln kann, muss man andererseits vor der Chuzpe Iñárritus den Hut ziehen. Mit solcher schonungslosen Selbstentblößung einen Film über den kreativen Prozess zu drehen, von emotionalen Abgründen zu erzählen, seine Eitelkeiten auszustellen, das muss man erst einmal wagen. Und das alles in flirrenden, schwerelosen Bildern, gedreht auf 65mm, die trotz aller Eitelkeit oft einfach atemberaubend schön sind.

Nach der Weltpremiere in Venedig hat Iñárritu seinen Exzess um 15 Minuten gekürzt, zu lang wirkt „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ zwar immer noch, ein ebenso eitles, wie faszinierendes Erlebnis bleibt es dennoch.

 

Michael Meyns