Berlin East Side Gallery

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Ein Vierteljahrhundert innerdeutscher Geschichte wird hier anregend diskutiert. Mit dutzenden Stimmen und Perspektiven, Musiken und Nationen gewinnt die über einen Kilometer lange Berliner „East Side Gallery“ am Spreeufer eine neue Dimension. Einst Horrorkonstrukt, jetzt Kunstwerk symbolisiert sie die Stadt als Zankapfel und Touristenmagnet wie kaum ein anderes Objekt in der Berliner Planungswüste. Seinem Thema entsprechend funktioniert der Film wie ein Kaleidoskop. Im Mittelpunkt steht die Rekonstruktion der Wandmalereien im Jahr 2009. Rundherum erwacht die Berliner Spontiszene der 1980er und 1990er zum Leben. Wer sie verpasst hat, findet hier echte Perlen.

Webseite: www.berlineastsidegalleryfilm.de

D 2014
Regie + Buch + Kamera: Karin Kaper und Dirk Szuszies
Musik: Patrick Grant, Kiddy Citny & Sprung aus den Wolken, Christoph Mödersheim
Länge: 120 Minuten
Verleih: Karin Kaper Film
Start: 8. Januar 2015

FILMKRITIK:

Kaum war die Mauer gefallen, wollte die ganze Welt Anteil an ihr haben. In mehr als 100 Städten auf allen Kontinenten stehen heute Teile der Berliner Mauer als Denk- und Mahnmale. Aber eben nur Teilstücke. Das längste noch erhaltene Stück entlang der Spree gegenüber dem Ostbahnhof wurde vor 25 Jahren erst spontan, dann organisiert von 118 Künstlern aus 21 Ländern, auf einer Länge von über 1,3 Kilometern bemalt. Ursprünglich sollten diese Mauermalereien verhackstückt in die Welt exportiert werden. Aber schon 1991 erhielt der Abschnitt die Würdigung „Denkmalschutz“. Im Ergebnis ist die „East Side Gallery“ nun die längste Open-Air-Gemälde-Strecke der Welt. Zu den über 100 Bildern kommen Bürgerinitiativen und Bauspekulanten, wechselnde Politik und tausende Meinungen. Wie soll das alles in einen Film passen?
 
Eingangs schweift der Blick weit über die Spree, die Oberbaumbrücke, die O2 Arena und erfasst das lockere Treiben entlang der Mauer. Dazu skizzieren die gewichtigen Originaltöne von Ernst Reuter („Völker der Welt, schaut auf diese Stadt“) über J.F. Kennedy („Isch bin ein Berlina“) und Reagan („Tear down this wall“) bis Schabowski („Ausreise ist möglich“) den Zeitraum vom Mauerbau bis zur Grenzöffnung.  Viel Happening, viele skurrile Momente sind dann zu sehen: Der protestierende Abgeordnete Ströbele rollt auf einem Tieflader ins Bild, ein gelangweilter Bürgermeister liefert einen Kommentar wie auch der lässige Pink-Floyd-Bassist Roger Walters und natürlich das Sponti-Urgestein David Monti, der Gründer der Gallery. Zwischendurch kreisen die Kräne und die Touristen fotografieren, was das Zeug hält oder sie schrubben eifrig die Kritzeleien vorheriger Touristen weg. Sogar die Feier zum 25sten Jahrestag des Mauerfalls vor zwei Monaten ist zu sehen.
 
Wirklich atemlos setzt man hier über dies umtoste Mauerstück das so genannte „Berlingefühl“ in Szene: Eine Hauptstadt, in der es überall rappelt und bröckelt, in der ständig etwas im Werden ist, in der einfallslose Klotzarchitekturen neben Brachland aufragen, in der nichts zusammenpasst, in der jeder etwas anderes will. Die Regisseure Karin Kaper und Dirk Szuszies begaben sich schon mit ihren Dokumentarfilmen zum New Yorker Living Theatre („Resist!“, „Another Glorious Day!“)  mitten hinein in den künstlerischen Diskurs über gesellschaftliche Brennpunkte. In den stärksten Momenten der Dokumentation erklären die einzelnen Künstler während der Restaurierung der eigenen Bilder ihren Bezug zur Mauer. Im individuellen Tempo, jeweils eingefasst von originellen Perspektiven und sorgsam ausgesuchter Musikbegleitung.
 
Ein Künstler aus Kreuzberg schaut zurück in der 1980er Jahre: „Wir sagten uns, wir malen, bis Ostberlin von Bildern eingeschlossen ist.“ Und: „Man hat normal mit der Mauer gelebt. Das war das Erschreckendste.“ Eine resolute Sächsin berichtet, wie sie damals ihr Motiv durchsetzte: „Isch will mei' Trabi da an de' Wand malen!“ Und sie erzählt, wie viel Selbstbewusstsein sie aus der neu gewonnenen Freiheit schöpfte. Ein anderer Künstler sagt: „Berlin war die bunte Stadt. Der Osten war grau in grau, die Menschen hatten sich aufgegeben. Hätten wir solche Farben gehabt, hätte es die Wende nicht gegeben.“ Auch die Japanerin Kikue Miyatake erklärt ihr Bild über die Farben: Schwarz für die Angst, Pastell für die Hoffnung. Hier gewinnt der Film eine enorme Intensität. Tun sich Zeitfenster auf, werden die Künstler zu ihren eigenen Zeitzeugen. Es ist eine sehr dicht gewebte Dokumentation, man hatte mindestens zwei Filme daraus machen können. Oder man schaut sich den Film zweimal an. Jugendliche sehen hier glasklar, wie ihr Sponti-Opa wurde, was er ist. Und nicht nur für neue Berlin-Enthusiasten, auch für eingefleischte Kiez-Berliner ist dieses Mauer-Porträt eine Fundgrube.
 
Dorothee Tackmann