Beyond Punishment

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In der Strafjustiz gibt es den Täter und das Opfer. Es soll Recht gesprochen, bestraft und vielleicht noch resozialisiert werden. Eine Annäherung zwischen beiden Seiten ist jedoch nicht vorgesehen – aber warum eigentlich nicht? Hubertus Siegert traf Menschen, die einen Angehörigen verloren haben und solche, die getötet haben. Was sie beschäftigt, was sie sich wünschen und wie sie aufeinander zugehen könnten, versucht der mit dem Max-Ophüls-Preis prämierte „Beyond Punishment“ zu ergründen. Das Ergebnis ist ein gleichermaßen eindringliches wie nachdenkliches filmisches Dokument.

Webseite: http://beyondpunishment.de

D 2015
Regie, Buch, Produktion: Hubertus Siegert
Laufzeit: 103 Minuten
Kinostart: 11.6.2015
Verleih: Piffl
 

FILMKRITIK:

Deutschland, Norwegen, USA. Drei Länder, drei Justizsysteme, drei Formen des Strafvollzugs. So unterschiedlich die Ausgestaltung des Rechts in diesen drei Ländern im Einzelnen auch ist – amerikanische Gerichte verhängen nicht selten drakonische Urteile bis hin zur Todesstrafe, im liberalen Norwegen kommen Gewalttäter hingegen oftmals schon nach mehreren Jahren wieder auf freien Fuß –, gemein ist ihnen doch die Einteilung der beiden Seiten in Opfer und Täter. Die einen, so beschreibt es Dokumentarfilmer Hubertus Siegert in seiner neuen Arbeit „Beyond Punishment“, sollten bestraft werden, die anderen sollten das Geschehene möglichst schnell vergessen. Beides gelingt jedoch nur teilweise, weil die jeweiligen Taten und ihre Folgen unumkehrbar sind. Siegert geht daher einer bislang vollkommen vernachlässigten, gleichwohl überaus spannenden Idee nach: Was geschieht, wenn sich Opfer und Täter plötzlich annähern und sich auf verschiedenen Ebenen – in Gedanken, Briefen, Videobotschaften oder sogar im realen Leben – begegnen?
 
Den Ausgangspunkt für diese Fragen verlegt der Film an einen Ort, an dem ein solches Aufeinandertreffen eigentlich undenkbar erscheint. Ausgerechnet in einem amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis treffen jedes halbe Jahr verurteilte Gewalttäter auf Verbrechensopfer. Sie reden miteinander und erzählen von ihren sehr persönlichen Erfahrungen und Schicksalen. „Restorative Justice“ nennt sich dieser revolutionäre Ansatz in der Bewältigung solcher Gewaltverbrechen. Siegert erkundet damit gewissermaßen Neuland im Strafvollzug. Er trifft dort ajuch auf Leola und Lisa aus der Bronx, die ihren Sohn und Bruder vor über 11 Jahren bei einer Schießerei in einem Supermarkt verloren haben. Noch immer warten sie darauf, dass der zu 40 Jahren verurteilte Mörder seine Tat zugibt. In Norwegen begegnen wir Erik, der erleben musste, wie seine damals sechszehnjährige Tochter von ihrem Freund erschossen wurde. Dass dieser nach dem Ende seiner Haftstrafe in die alte Nachbarschaft zurückkehren könnte, will und kann Erik nicht akzeptieren. Schließlich thematisiert Siegert mit der Ermordung des Diplomaten Gero von Braunmühl durch die RAF im Jahr 1986 auch ein dunkles Kapitel bundesdeutscher Zeitgeschichte. Von Braunmühls Sohn Patrick sucht noch immer nach Antworten und nach der Person, die damals ganz unmittelbar für die tödlichen Schüsse verantwortlich war.
 
„Beyond Punishment“ nähert sich seinen Protagonisten und ihren Schicksalen in ihrem Alltag. Es ist ein Alltag, der diese Umschreibung nicht immer verdient. Zu präsent ist auch noch nach Jahren die Erinnerung an die Tat und an den Menschen, den man verloren hat. Die emotionalen Schilderungen vor allem von Leola und Lisa gehen unter die Haut und sind doch nicht das, was Siegerts Film vor allem auszeichnet. Sein Interesse geht über die Verurteilung und Bestrafung der Täter weit hinaus. Er will jene Gefühle und Bedürfnisse aufdecken, die im Justizsystem und im Strafvollzug für gewöhnlich ausgeblendet werden. Er fragt sich, wie Opfer und Täter aus ihren jeweiligen Rollen heraustreten könnten, um nicht länger in den stets gleichen, destruktiven Gedanken gefangen zu sein. Der Ansatz von „Restorative Justice“ könnte hierbei helfen und doch erhebt Siegert diesen nicht zum Allheilmittel. Statt klarer und vielleicht allzu schneller Antworten liefert „Beyond Punishment“ vor allem Denkanstöße. „Out of the box“ nennen das die Amerikaner.
 
Dramaturgisch nutzt Siegert die Aussicht auf eine langsame Annäherung zwischen den Tätern und den Hinterbliebenen als Spannungselement seines zwischen der New Yorker Bronx, Norwegen und Berlin aufgeteilten Films. Wie reagiert die jeweilige Seite auf Nachrichten oder eine Videobotschaft? Wird es gar zu einem Treffen kommen? Der Norwegen-Episode gelingen dabei die intensivsten Eindrücke, auch weil der junge Täter mit dem Vater der ermordeten Schülerin trotz aller Ängste in einen zumindest aus der Distanz geführten Dialog eintritt. Am Ende rüttelt „Beyond Punishment“ mit großer Eindringlichkeit an unserem Grundverständnis von Strafe, Recht und Gerechtigkeit. Und selbst wenn vieles offen bleibt und es in diesen Fragen vermutlich kein Richtig oder Falsch geben kann, ist die Ansicht dieser Doku ein Gewinn.
 
Marcus Wessel