Blutsauger

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„Alle reden vom Wetter. Wir nicht“ - so lautete Ende der 1960er Jahre ein Slogan der Deutschen Bahn, aber auch des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, kurz SDS. Auf die heutige Zeit übertragen, könnte man sagen: Alle reden von Corona, nur der Filmemacher Julian Radlmaier nicht. Der redet vom Kapitalismus, genau wie vormals der SDS. Das tat Radlmaier schon in seinem Erstling „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ (2017). Nun verlegt er die urkomische Mischung aus Marxismus, Liebesfilm und Fabulierlust in die Vergangenheit.

Website: https://grandfilm.de/blutsauger/

Deutschland 2021
Buch und Regie: Julian Radlmaier
Darsteller: Alexandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Alex Herbst, Corinna Harfouch, Andreas Döhler
Länge: 125 Minuten
Verleih: Grandfilm
Kinostart: 12.05.2022

FILMKRITIK:

Sommer 1928: An den Wellen des Ostseestrandes spaziert ein russischer Baron im Frack. Nicht minder elegant ist die Aufmachung der jungen Millionärin, die ihr Geld mit Kosmetik verdient, aber eigentlich nur an Literaten und Künstlern interessiert ist. Als einen solchen meint sie den vornehmen Herrn zu erkennen, den sie in der Ferne erblickt. Sofort schickt sie ihren Diener hin, der sie dem Fremden bekannt machen soll. So weit, so historisch. Aber was soll der Kitesurfer im Hintergrund? Ist der aus der Gegenwart in die 1920er gesegelt? Und gab es damals tatsächlich schon Visitenkarten, die man miteinander tauschte, um sich über Rang und Stellung seines Gegenübers ins rechte Bild zu setzen? Schnell wird klar: Das mit dem Historienfilm ist genauso schelmisch gemeint wie die Identität der irrwitzigen Figuren, die hier am Wasser entlangflanieren.

Die blühende Fantasie im Ausschmücken und Weiterspinnen von Handlung, Nebenschicksalen und Vorgeschichte gehört zu den großen Pluspunkten dieser eigentümlichen Komödie, die sich gegen jede Schublade sperrt. Deshalb nur so viel: Der Baron Ljowuschka (Alexandre Koberidze, im Hauptberuf Regisseur) ist in Wahrheit ein Schauspieler, der aus dem postrevolutionären Russland fliehen musste. In ihn verguckt sich während der Strandszene die Fabrikerbin Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg), was zur Eifersucht ihres Dieners Jakob (Alex Herbst) führt, der schon lange ein Auge auf seine schillernde Herrin geworfen hat. Wichtig zu erwähnen ist zudem, dass sich an einem anderen Strandabschnitt eine Gruppe von Arbeitern und Arbeiterinnen aus Octavias Fabrik getroffen hat, um „Das Kapital“ von Karl Marx zu lesen. Dort heißt es, das Kapital entwickle einen „Vampirdurst“ nach lebendiger Arbeitskraft. Von einem Vampir wird die Gegend tatsächlich heimgesucht. Die Arbeiter allerdings glauben in ihrem entfremdeten Bewusstsein nicht an tagscheue Sauger, sondern an eine chinesische (!) Wanzenseuche, die für die unstrittigen Bisse verantwortlich sein soll.

Eine Story im gewöhnlichen Sinn wird das nicht, eher ein lockeres Flanieren durch Kunst- und Sozialgeschichte, angereichert mit skurrilen Charakteren und der Lust am Weiterspinnen guter Einfälle. Zwar mögen sich die Filmfiguren gefangen fühlen im Korsett gesellschaftlicher Rollen, aber die naturverliebte Kamera, der gemächliche Rhythmus und das stilvolle Ambiente träumen vom freien, unentfremdeten Leben. So möchte man sich die konkrete Utopie vorstellen, die Karl Marx in seinen Frühschriften skizzierte: „Heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe.“ Am deutlichsten wird dies, wenn Octavia, Ljowuschka und Jakob einen (Vampir)film drehen. Hier darf jeder einmal hinter und vor die Kamera, die Stimmung ist ausgelassen, soziale Unterschiede scheinen wie weggeblasen.

Julian Radlmaier nimmt sich nicht nur selbst viel Freiheit zum Spintisieren, er räumt sie auch seinem Publikum ein. Immer wieder tauchen in den oft tableauartigen Szenen Verweise in die Gegenwart auf, weniger als Metaphern oder bildungsbürgerliches Zitateraten, sondern als Anreize zum Nachsinnen, über sich selbst, die Gesellschaft und natürlich über die Liebe. Zeit zum Denken habe man nie, klagt einmal Diener Jakob. Die Komödie gibt sie nicht nur ihm, sondern dem Zuschauer zurück. Allerdings rechtfertigt das nicht die Länge des Films (125 Minuten), der nach etwa 90 Minuten sein Pulver weitgehend verschossen hat.

Peter Gutting