Brother’s Keeper

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Im Osten der Türkei spielt „Brother's Keeper“, der zweite Spielfilm des türkischen Regisseurs Ferit Karahan, für den er bei der Berlinale 2021 mit dem Preis der Internationalen Filmkritik ausgezeichnet wurde. In klassisch sozialrealistischer Weise schildert Karahan das harsche Leben in einem Internat, wo kurdische Schüler von türkischen Lehrern unterrichtet, aber auch misshandelt werden.

Okul tirasi
Türkei/ Rumänien 2021
Regie: Ferit Karahan
Buch: Ferit Karahan, Gülistan Acet
Darsteller: Samet Yıldız, Ekin Koç, Mahir İpek, Nurullah Alaca, Cansu Fırıncı, Melih Selçuk

Länge: 85 Minuten
Verleih: déjà-vu Film
Kinostart: 27. Juli 2023

FILMKRITIK:

Unwirtlich wirkt die Internatsschule, karg eingerichtet, nicht unbedingt unmenschlich, aber ganz gewiss nicht einladend. Trotz der winterlichen Temperaturen müssen die Schüler das wöchentliche Duschen über sich ergehen lassen, auch dann, als plötzlich das vermutlich ohnehin nur lauwarme Wasser ausbleibt. Weil sie rumgealbert haben zwingt der Aufseher Hamza (Cansu Fırıncı) den kleinsten und schwächsten Schüler Memo (Nurullah Alaca), sich mit kaltem Wasser zu waschen, mit katastrophalen Folgen.

Am nächsten Morgen liegt Memo apathisch im Bett, nur sein Mitschüler Yusuf (Samet Yıldız) scheint sich Sorgen zu machen, aus Gründen, die sich erst später zeigen werden. Mit zunehmender Verzweiflung versucht Yusuf, seinen Lehrer Selim (Ekin Koç) von der Notlage zu überzeugen, doch der fühlt sich nicht verantwortlich. Mehr als eine Tablette gibt es in der Krankenstation des Internats für Memo nicht, doch als sich am Zustand des Schülers nichts ändert, beginnt aich der Direktor Müdür (Mahir İpek) sich langsam Sorgen zu machen.

Der kurdsichstämmige türkische Regisseur Ferit Karahan weiß wovon er redet: Sechs Jahre hat er selber in einer der vielen Internatsschulen im Osten der Türkei verbracht, wo vor allem die Kinder der meist armen, kurdischen Bevölkerung der Region unterrichtet werden. Was in diesem Fall nicht zuletzt bedeutet, kontrolliert und indoktriniert, angehalten, sich der türkischen Mehrheitsgesellschaft anzupassen, ihre kurdischen Traditionen zu vergessen. Einmal fragt eine Lehrerin im Unterricht etwa, in welcher Region man sich befindet und korrigiert den mit „Kurdistan“ antwortenden Schüler: „Ostanatolien“ heiße die Region.

Doch überdeutlich politisch wird „Brother’s Keeper“ nicht, die Aversion, die die türkischen Lehrer gegen ihre kurdischen Schüler empfinden, zeigt sich in ihrer Ignoranz, als Memo krank wird. Jeder der Lehrer denkt nur an den eigenen Vorteil, weißt die Verantwortung von sich, schiebt die Schuld auf den Nächsten und schließlich auf die Schüler selbst. Ein wenig schlicht mutet dieser Blick auf eine Gesellschaft an, überdeutlich sind die Rollen verteilt, die in kurzen 80 Minuten durchdekliniert werden.

Der Einfluss des sozialrealistische, dank einer mobilen Handkamera immer ganz nah an den Protagonisten agierenden Kinos der belgischen Dardenne-Brüder ist dabei ebenso deutlich zu spüren, wie der des sozialkritischen rumänischen Kinos, in dem immer wieder die unterschwellige Korruption des Systems angeprangert wird. Wovon „Brother’s Keeper“ jedoch lebt ist sein junger Hauptdarsteller Samet Yıldız, ein Laiendarsteller wie alle Kinder im Film. Mit großen, wachen Augen beobachtet er das Geschehen, weiß wie das System funktioniert, blickt mit für sein Alter viel zu großem Wissen um die Ignoranz der Erwachsenen auf seine Lehrer, kann am Ende aber auch nichts an der Situation ändern. Eine tragische Figur ist dieser Yusuf, der am Ende derjenige ist, der als einziger bestraft wird und dazu verdammt ist, selbst Teil einer Welt zu werden, in der Mitmenschlichkeit nicht viel zählt.

 

Michael Meyns