Close

Zum Vergrößern klicken

Seit ihrer frühesten Kindheit verbringen die 13-jährigen Léo und Rémi viel Zeit miteinander, in ihrer Vertrautheit wirken sie fast wie Brüder. Eines schönen Tages aber ändert sich etwas in ihrem Verhältnis zueinander und kommt es zu einer irreversiblen Trennung. Wie damit umzugehen ist, dem spürt der belgische Regisseur Lukas Dhont in seinem bei aller Schicksalsschwere von poetischen Momenten durchsetztem Drama nach. Dabei findet er immer wieder großartige Bilder, die das Unaussprechliche der auf eine harte Probe gestellten Freundschaft einfühlsam beschreiben und das Publikum bei der Suche nach Antworten auf schwierige Fragen mitfühlen lassen.

Belgien/Frankreich/Niederlande 2022
Regie: Lukas Dhont
Mit: Eden Dambrine, Gustav de Waele, Émilie Dequenne, Léa Drucker,

Länge: 105 Minuten
Verleih: Pandora Film
Kinostart: 26.1.2023

FILMKRITIK:

Wie sie da so durch die farbenfroh blühenden Blumenfelder vor den Toren ihres Wohnortes rennen, phantasievoll Ritterabenteuer spielen, sich ausmalen, wie der eine später mal Manager des anderen, musikalisch sehr begabten Freundes, sein wird – da denkt man unweigerlich an eine glückliche Kindheit. Léo (Eden Dambrine) und Rémi (Gustav De Waele) kennen sich von Kindesbeinen an. Und auch mit 13 Jahren raufen sie noch miteinander, als seien sie kleine verspielte Tiger. Alles gut so weit. Doch dann, zu Beginn eines neuen Schuljahres und dem Wechsel in eine andere Klasse, treibt die ohne böse Absicht an die Freunde gerichtete Frage, ob sie hinsichtlich ihrer sichtbar großen Vertrautheit ein Liebespaar – möglicherweise also schwul - seien, einen Keil zwischen die beiden. So hatten sie ihr ganz selbstverständliches Beisammensein selbst noch nie gesehen. Warum auch? Einer der Jungen distanziert sich daraufhin – erst körperlich, dann emotional - was den anderen verletzt. So sehr, dass etwas Schlimmes passiert. Dieses Etwas zu verstehen, möglicherweise die Frage, schuld daran zu sein, zehrt schwer – auch an den Erwachsenen, die sich fragen, wie plötzlich die Leichtigkeit der Freundschaft verschwinden konnte.

Der Belgier Lukas Dhont, dessen erster Spielfilm – das Geschlechtsumwandlungsdrama „Girl“ - 2018 in Cannes die Goldene Kamera gewann, hat famose und poetische Bilder gefunden, um ein schweres Thema über für Irritation sorgende Erfahrungen im Kindheits- und Jugendalter an der Schwelle zum Erwachsenwerden zu behandeln. Dabei versteht es Dhont erneut, sich auf das im Grunde durch den zentralen dramatischen Zwischenfall überhaupt erst zutage tretende Gefühlsleben seiner jungen Figuren einzulassen. Bei ihm sagen Blicke und Gesten oft mehr als Worte. Bei ihm dürfen die Kinder sensibel sein, ihre schwachen, verletzlichen Seiten zeigen und sich zum Beispiel ganz vertraut über das Weinen – ob aus Trauer oder aus Wut – unterhalten.

Im Zuge seines Nachspürens nach Empfindungen und dem Bewusstsein, dass es das nun gewesen sein könnte mit der Unbeschwertheit einer glücklichen Kindheit und der intensiven Freundschaft, rührt Lukas Dhont auch an die Beschäftigung von Fragen in Verbindung mit Verlust und Schmerz, Schuld und Widergutmachung. Der emotionale Rückzug von Léo wird dabei durch dessen neu entdeckte Beschäftigung mit Eishockey sehr gut beschrieben. Hier kann er seine Aggression ausleben, kann üben, aufgrund der Härte des Sports Schmerzen auszuhalten und Schläge einzustecken. Eingepackt in eine dicke Schutzausrüstung, dazu ein Helm mit Gitterfenster vor dem Gesicht, wird so die innere Isolation und Distanz zum Umfeld ebenso gut beschrieben wie die Unsicherheit des Jungen in seinen nervös umherblickenden Augen.

Wie schon für „Girl“ hat Dhont auch hier wieder zwei ausdrucksstarke Jungdarsteller gefunden, die beide ihr Leinwanddebüt geben. Doch auch Léa Drucker und vor allem Émilie Dequenne machen als einfühlsame und in Erziehungsfragen scheinbar locker eingestellte Mütter einen guten Job vor der Kamera. Ihre Rolle im Zuge der Identitätsfindung ihrer Sprösslinge ist in diesem feinfühligen und aufwühlenden Drama über Nähe, Distanz und Entfremdung nicht zu unterschätzen.

 

Thomas Volkmann