Die Filmfestspiele von Cannes endeten mit einer großen Überraschung: Mit der Goldenen Palme wurde das Einwandererdrama "Dheepan" ausgezeichnet, in dem Jacques Audiard ("Ein Prophet", "Der Geschmack von Rost und Knochen") erneut eine im Ansatz sozialrealistische Geschichte mit Genremotiven verknüpft und mit viel Kraft und Pathos überhöht.
Webseite: http://daemonenundwunder.weltkino.de
Frankreich 2015
Regie: Jacques Audiard
Buch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain, Noé Debré
Darsteller: Jesuthasan Antonythasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby, Vincent Rottiers, Marc Zinga
Länge: 109 Minuten
Verleih: Weltkino
Kinostart: Herbst 2015
Pressestimmen/Auszeichnungen:
Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele Cannes 2015
FILMKRITIK:
"Wo ist deine Mutter?" fragt Yalini (Kalieaswari Srinivasan) jedes Kind, das allein auf dem Markt in Sri Lanka sitzt. Bekommt sie eine Antwort sucht sie weiter bis sie ein Kind findet, dass keine Eltern mehr hat. Kurzerhand macht sich Yalini zur Mutter von Illayal ( Claudine Vinasithamby), einem etwa zehnjährigen Mädchen. Im Büro der Schieber bekommen "Mutter" und "Tochter" mit Dheepan (Jesuthasan Antonythasan) noch einen "Vater" zugeordnet und los geht es. Die Flucht führt aus dem Bürgerkriegsland in den Westen, wo man als Familie bessere Chancen auf Asyl hat. Der Übersetzer im französischen Amt durchschaut zwar sofort Dheepans Lügen, er hat solche oder ähnliche Geschichten schon tausend Mal gehört. Doch man stammt aus der selben Region also lässt er Dheepan ins Land, wo er fortan in einem heruntergekommenem Häuserblock in der Banlieue als Hausmeister arbeiten wird.
Wie aus den täglichen Schlagzeilen gerissen wirken diese ersten Minuten von Jacques Audiards Film, der die Flüchtlingsströme nach Europa jedoch nicht als Anlass für ein rührseliges Drama nimmt, sondern nur als Ausgangspunkt für jene ganz spezielle Mischung aus Sozialrealismus und Genremotiven, für die er bekannt ist. Anfangs zeichnet er das Leben der unfreiwilligen Familie mit großer Genauigkeit nach, beobachtet Dheepan bei seinen Pflichten als Hausmeister, zeigt wie Yalini versucht, in der ungewohnten Umgebung Fuß zu fassen, wie Illayal in eine französische Schule geht und für Momente tatsächlich so etwas wie "echtes" Familienleben entsteht.
Zunehmend wird jedoch deutlich, wie wenig sich für Dheepan geändert hat, für ihn, den ehemaligen Guerillakrieger der Tamilischen Tiger, der jahrelang mit Gewalt gelebt hat, die er aber doch nicht vergessen kann. Und mit der er nach und nach auch in dem Banlieue konfrontiert wird: Denn einer der Häuserblocks wird von Brahim (Vincent Rottiers) kontrolliert, einem Drogendealer bei dem Yalini bald als Hausmädchen arbeitet. Immer deutlicher wird, dass die Flüchtlinge aus Sri Lanka nur einen Kriegsschauplatz gegen einen anderen ausgetauscht haben.
Vielleicht war es das aktuelle Thema, dass die Jury um die Coen-Brüder dazu bewog, "Dheepan" mit der Goldenen Palme auszuzeichnen, die allerdings eher wie eine Würdigung des gesamten Werks Jacques Audiards wirkt. Kraftvoll und souverän erzählt ist "Dheepan" ohne Frage, schafft es auch über weite Strecken überzeugend, sozialrealistische, fast dokumentarische Momente, mit den Genremotiven zu verknüpfen. Wenn er dann aber das Pendel zunehmend in Richtung Genre kreisen lässt, Dheepan in einem exzessiven Actionmoment noch einmal zur Waffe greift, verliert der Film ein wenig die Balance. Etwas zu beiläufig wird dann die an sich spannende Ausgangssituation beiseitegewischt, nämlich die aus purer Notwendigkeit zusammengewürfelte Familie. Anfangs war es gerade Yalini, die ihre "Tochter" verlassen wollte, nur an sich selbst dachte, während Dheepan hofft, hier eine neue, funktionierende Familie gefunden zu haben. Im Rausch der Action verliert Audiard diese persönliche Ebene etwas aus den Augen, löst sie schließlich gar in einem Happy End auf, das wie eine Phantasie wirkt. So hinterlässt "Dheepan" einen etwas zerfahrenen Eindruck, funktioniert die Verknüpfung der Genres diesmal nicht ganz so stark wie in Audiards besten Filmen. Doch allein die Ambition der Geschichte, kombiniert mit den überzeugenden Laiendarstellern und Audiards souveräner Inszenierung machen "Dheepan" zu einem interessanten, sehenswerten Film.
Michael Meyns
Durchzogen von einer ruhigen und bedächtigen Erzählweise, schildert das kraftvolle Drama "Dämonen und Wunder" den harten Kampf dreier Flüchtlinge aus Sri Lanka um einen friedvollen Neuanfang in Frankreich. Der Film macht dabei zwei Dinge deutlich: wie sich alle Mitglieder des als Familie ausgebenden Trios ganz individuell mit der neuen Situation, die geprägt ist von Sprachbarrieren und kulturellen Unterschieden, umgeht. Zum anderen macht der Film unmittelbar und unverstellt den harten Alltag in den von Korruption und Rassismus geprägten Banlieues greifbar. Der neue Film von Jacques Audiard ("Ein Prophet") gewann dafür in diesem Jahr in Cannes die Goldene Palme.
Sri Lanka, kurz vor Ende des Bürgerkriegs: Der Journalist Dheepan (Jesuthasan Antonythasan), der mit den Rebellen jahrelang für einen freien Tamilenstaat gekämpft hat, entschließt sich zur Flucht. Die Rebellen haben den Kampf verloren und er sieht keine Zukunft mehr in seiner Heimat. Er will nach Frankreich, dort hofft er auf eine bessere und sichere Zukunft für sich. Dheepan glaubt, dass Familien mehr Chancen auf Einreisen haben, weshalb er sich mit der der jungen Frau Yalini (Kalieaswari Srinivasan) und der neunjährigen Waisen Illayaal (Claudine Vinasithamby) als Familie ausgibt, die gemeinsam eine neue Zukunft suchen. In Frankreich angekommen, wird ihnen klar, dass ein Leben und Neuanfang in Europa alles andere als leicht ist. In einem sozialen Brennpunkt in der Nähe von Paris untergebracht, beginnt Dheepan einen Job als Hausmeister. Bald halten täglicher Rassismus und offene Gewalt Einzug in der Sozialbausiedlung und im Leben der "falschen" Familie.
Nachdem bereits einige Werke des Regisseurs Jacques Audiard, einer der wichtigsten Filmemacher des französischen Gegenwartskinos, für die Goldene Palme nominiert waren, konnte er den Preis in diesem Jahr für "Dämonen und Wunder" endlich mit nach Hause nehmen. Es ist sein erster Film seit dem gefeierten Drama "Der Geschmack von Rost und Knochen" von 2012. Hauptdarsteller Antonythasan konnte sich als tamilischer Flüchtling dabei gut in seine Rolle hineinversetzen: er musste als Kindersoldat im Bürgerkrieg seiner Heimat kämpfen und flüchtete mit 19 Jahren nach Thailand. Anfang der 90er gelang ihm die Einreise nach Frankreich.
Die Flüchtlingskrise hat in diesen Tagen nicht nur in der realen Welt traurige Hochkonjunktur, auch das Kino widmet sich in jüngster Zeit verstärkt dem Thema. Nach Jonas Carpignanos "Mediterranea" startet innerhalb weniger Wochen nun das zweite intensive, kraftvolle Flüchtlingsdrama in den deutschen Kinos. "Dämonen und Wunder" unterscheidet sich dabei aber in erster Linie dadurch, dass es nicht nur den mühsamen Kampf um einen friedlichen und gerechten Anfang in der neuen Heimat zeigt, sondern eine ganz ungewöhnliche Konstellation zum wesentliche Teil der Geschichte macht. Die drei Flüchtlinge Dheepan, Yalini und Illayaal geben sich als Familie aus, obwohl sie keine sind, wodurch der Film zunehmend an Konfliktpotenzial gewinnt.
Denn Regisseur Audiard schildert in leisen, vorsichtigen Andeutungen und zarten Gesten immer wieder, welche Berührungsängste und Unsicherheiten bei den Beteiligten damit einhergehen. Yalini nimmt nur widerwillig und ungern die Rolle der (Ersatz-) Mutter an, während sich die neunjährige Illayaal von den falschen Eltern nicht geliebt fühlt und ihre wirklichen Eltern vermisst. Und Dheepan weiß nicht, wie nah er seiner "Frau" kommen darf und ob er sich ihr auch körperlich nähern soll. Denn eines wird bald nach der Ankunft im französischen Banlieue deutlich: Dheepan findet immer mehr Gefallen an Yalini, davon zeugen verstohlene, schüchterne aber letztlich eindeutige Blicke, die Audiard subtil und mit schnellen Schnitten einfängt. die Da die drei aber schließlich nur einander haben und sie sich durch die gefahrvolle Stimmung innerhalb der erdrückenden Sozialbausiedlung zunehmend unsicher fühlen, kommen schließlich auch bald Familiengefühle auf. Aber nur für einen kurzen Moment.
Denn ganz plötzlich und unvermittelt, in einer nachdrücklichen und einschneidenden Szene, kann Dheepan in einem Moment der Einsamkeit seine unterdrückten Emotionen nicht mehr im Zaun halten. Es sind die Angst und der Frust über die Gewalt und den alltäglichen Ausländerhass, die sich ihren Weg nach außen bahnen. Denn auch das schildert der Film sehr deutlich und unverfälscht: die von Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung und Drogenkriegen geprägten, desolaten Zustände in den französischen Problem-Banlieues. Und mittendrin drei hilflose, auf sich gestellte Flüchtlinge, die alles verloren haben - und mit bedingungsloser, leidenschaftlicher Hingabe von den drei Hauptdarstellern verkörpert werden.
Björn Schneider