Das Ende des Schweigens

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Das Dokudrama handelt von einem beinahe vergessenen Justizskandal der jungen Adenauer-Republik: Mit Unterstützung von Ex-Nazi-Juristen wurde in den 1950er Jahren in Frankfurt am Main Jagd auf homosexuelle Männer gemacht. Aufgrund der Aussagen von Kronzeugen wurden sie verhaftet und verurteilt. Van-Tien Hoang erzählt davon in nachgestellten, kleinen Spielszenen und anhand der Aussagen von Zeitzeugen und Historikern. Insbesondere die engagierten Darsteller und das insgesamt spannende Thema machen den Film durchaus sehenswert.

Webseite: https://www.gmfilms.de

Dokumentarfilm
Deutschland 2020
Regie: Van-Tien Hoang
Drehbuch: Van-Tien Hoang, Holger Heckmann
Laufzeit: 79 Minuten
Verleih: GMfilms
Kinostart: 2.12.2021

FILMKRITIK:

Fröhliche Bilder vom Christopher Street Day in Frankfurt am Main – gut gelaunte und selbstbewusste Menschen aus der Queer-Szene tanzen und feiern miteinander. Doch diese Normalität ist ganz und gar nicht selbstverständlich.

Rückblende in die 50er Jahre: Bei den Frankfurter Homosexuellen-Prozessen wird der Dauerzeuge Otto Blankenstein aufgerufen. Seine Aussagen als Kronzeuge bringen viele Männer ins Gefängnis. Die Verhaftungen sind das Ergebnis einer regelrechten Hetzjagd auf Homosexuelle. Ihre Verurteilung nach § 175 StGB macht sie nicht nur zu Vorbestraften, sondern wird in vielen Fällen zum Auslöser für die Vernichtung von beruflichen und privaten Existenzen. Ihnen werden Doktortitel aberkannt, Arbeitgeber und Familien werden informiert … Einige Betroffene sterben lieber, als so weiter zu leben – sie enden im Selbstmord. Und Otto Blankenstein steht bald selbst vor Gericht. Das Urteil: Zweieinhalb Jahre Jugendgefängnis, ebenfalls auf der Grundlage des so genannten „Homosexuellen-Paragraphen“.

Der Historiker Christian Setzepfandt sowie weitere Wissenschaftler, Autoren und Journalisten stellen die damalige Situation näher dar: die Strichjungenszene im Nachkriegsdeutschland, besonders in Frankfurt/Main, wo sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs schnell wieder eine homosexuelle Community bildet. Eine fatale Mischung aus Nazi-Gedankengut, Ignoranz und Homophobie vereint Strafverfolgungsbehörden und Justizvertreter, die zu einer regelrechten Jagd auf homosexuelle Männer aufrufen, angeführt von Juristen, die ihre Ämter nach dem Krieg behalten oder wiedererlangt hatten. Einer der Männer, die aufgrund von Otto Blankensteins Aussagen verhaftet werden, ist Wolfgang Lauinger. Sein Name findet sich, ebenso wie die Namen von mehr als 100 anderen Männern, in Blankensteins Notizbuch. Wolfgang Lauinger wird ohne Anklage acht Monate in Einzelhaft gesperrt. Später wird er zum Vorkämpfer der Schwulenszene, der sich auch für die Rehabilitierung der Opfer des § 175 einsetzt. Wie es mit Otto Blankenstein nach der Haftentlassung weitergeht, bleibt ungeklärt. Seine Spuren verwischen sich …

In Van-Tien Hoangs engagiertem Dokudrama wechseln sich Interviews und Spielszenen ab. Der historische Hintergrund sowie die damalige Entwicklung der Ereignisse wird von Zeitzeugen und Historikern dargestellt und erläutert. Einer von ihnen ist Wolfgang Lauinger, der damit zur heimlichen Hauptperson des Films wird. Als Betroffener, als Opfer, aber auch als trotz seines hohen Alters durchaus kämpferischer Geist. An ihm wird sowohl die Tragik der Ereignisse als auch die Schuld der Behörden deutlich. Was muss es für die verfolgten Homosexuellen der NS-Zeit bedeutet haben, als sie nach dem Krieg wieder und weiter gejagt wurden, noch dazu von denselben Juristen und mit Hilfe einer Rechtsprechung, die von den Nazis verschärft worden war und in der jungen Bundesrepublik weiter Bestand hatte?

Van-Tien Hoang macht aus dieser Konstellation dankenswerterweise kein rührseliges Melodram, sondern er bleibt weitgehend sachlich, auch in den Spielsequenzen, die eher kammerspielartig wirken, oft als Dialog mit zwei handelnden Personen in einer unaufwändigen Innendekoration. Dabei kümmert sich Van-Tien Hoang verhältnismäßig wenig um historische Genauigkeit – die 50er Jahre werden hier mehr behauptet als dargestellt, und die Spielszenen haben am ehesten den Charakter von Vignetten, die für Abwechslung sorgen. Das klappt ganz gut, allerdings wird darin keine durchgängige, dramaturgisch strukturierte Geschichte erzählt, was ein wenig schade ist, zumal sich Wolfgang Lauinger als weitere Hauptperson angeboten hätte. Er spielt jedoch (leider) nur eine Nebenrolle. Im Mittelpunkt der Spielszenen steht Otto Blankenstein, der zwielichtige Kronzeuge, der als Nachkriegs-Teenager ums Überleben kämpft. Christoph Gerard Stein schafft es tatsächlich, ihm in den wenigen Szenen, die er hat, einen Charakter zu geben: ein hübscher Junge, der zum Edelstricher wird und schnell einen gewissen Charme entwickelt – ein zu früh erwachsen gewordenes Kind ohne Bezugspersonen, eigentlich eine verlorene Seele.

Die Verbindungen zum Film „Große Freiheit“ sind offensichtlich. Jedoch geht es bei Van-Tien Hoang weniger um emotionale Verwerfungen, um erotische Beziehungen oder darum, eine dramatische Geschichte zu erzählen. Was in „Große Freiheit“ subtil bleibt, wird hier historisch und politisch eingeordnet. Im Mittelpunkt steht die Aufarbeitung des Justizskandals – und damit der Appell, dass dieses Unrecht nicht in Vergessenheit geraten darf, sowie die Mahnung, dass die hart erkämpften Rechte wieder in Gefahr geraten können. Wolfgang Lauinger starb 2017, nach den Dreharbeiten, im Alter von 99 Jahren. Eine Entschädigung für die Haft blieb ihm verwehrt.

Gaby Sikorski