Das Glück zu leben – The Euphoria of Being

Zum Vergrößern klicken

Eine wunderbare und unglaublich intensive Arthouse-Entdeckung: Es geht um ein ganz besonderes Tanzprojekt, bei dem eine Frau am Ende ihres Lebens gemeinsam mit einer jungen Modern Dance-Ballerina in die Vergangenheit reist – ein oft schmerzhafter Weg, denn die 90-jährige Éva Fahidi ist eine der wenigen Überlebenden des KZ Auschwitz. Die ungarische Regisseurin und Choreographin Réka Szabó hat ein großartiges Kunstwerk geschaffen, bei dem Musik, Tanz und das gesprochene Wort miteinander verschmelzen. Ihr Film zeigt die aufregende Probenarbeit, aber auch den Prozess des Kennenlernens und des Verstehens zwischen den drei Frauen. Am Ende steht eine bühnensprengende Performance – ein Tanz gegen das Vergessen als Hymne an das Leben.

Webseite: http://www.filmkinotext.de/das-glueck-zu-leben.html

The Euphoria of Being
Dokumentarfilm
Ungarn 2019, OmU
Buch und Regie: Réka Szabó
Länge: 83 Minuten
Verleih: Film Kino Text, Vertrieb: Filmagentinnen
Kinostart: 30.9.2021

FILMKRITIK:

Zu Beginn nimmt Éva Fahidi in Debrecen an der Stolperstein-Zeremonie für ihre Familie teil. Sie hat alle 49 Mitglieder ihrer Familie verloren, sie sind ausgelöscht, nichts hat mehr an sie erinnert. Nun steht sie vor dem Haus, in dem sie aufwuchs, und möchte nicht hineingehen. Réka Szabó ist dabei, sie sprechen kurz miteinander. Wenig später erhält Éva eine Nachricht von Réka: Sie hat die Idee für ein Bühnenprojekt – eine Tanzperformance – und die alte Dame sagt zu.

Die ersten Gespräche mit der Tänzerin Emese Cuhorka, die ersten spielerischen Bewegungen nebeneinander, zu zweit im Raum … die beiden Frauen lernen sich langsam kennen, doch alles bleibt in einem beinahe unverbindlichen Rahmen. Éva erzählt von ihrer Jugend, und Réka bleibt im Hintergrund, während die beiden anderen Frauen, die junge und die alte, über Lebenssituationen sprechen, die sie geprägt haben. Éva, von der schon bekannt ist, dass sie Schreckliches hinter sich hat, bleibt zunächst ein wenig distanziert. Sie hält sich mit konkreten Schilderungen zurück und erfasst eher Stimmungen. Trotzdem intensiviert sich die Verbindung zwischen den beiden Akteurinnen und ihrer Regisseurin, das Projekt rückt in greifbare Nähe, und bald wird es ernst: Der Vertrag mit dem Theater ist unterschrieben. Es bleiben noch drei Monate für die Arbeit an der Performance, in der Éva ihre körperlichen und seelischen Grenzen überschreiten wird. Die Erinnerung kehrt zurück, an all die Schrecken und ebenso daran, dass ausgerechnet sie überlebt hat. Die Kommunikation zwischen den beiden Tänzerinnen – der 30-jährigen Profi-Ballerina und ihrer 90-jährigen Bühnenkollegin – entwickelt sich immer stärker zu einer gleichberechtigten Beziehung zwischen zwei ebenbürtigen Partnerinnen. Im tänzerischen Dialog mit ihrer in Auschwitz ermordeten kleinen Schwester oder im Spiegelbild von Jung und Alt: Éva scheint sich immer mehr wiederzufinden, und manchmal wirkt es, als würden sich die Traumata ihrer Jugend im Tanz auflösen. Am Ende wird die alte Dame wieder jung – unbeschwert lässt sie sich herumwirbeln, die Junge nimmt die Alte wie ein Kind auf den Arm, und da ist nur noch Glück.

Was kann Kunst? Wie an diesem Dokumentarfilm zu sehen ist, kann Kunst Großes, nämlich Wunder bewirken. Eine traumatisierte Frau entdeckt über den Tanz ihre Lebenslust neu und anders. Ihre gesprochenen Worte werden in die Sprache des Tanzes übersetzt. Réka Szabó ist Initiatorin und Zeugin dieses Prozesses, in dem auch die Modern Dance-Ballerina Emese Cuhorka eine wichtige Rolle spielt. Die liebenswerte Emese wird gleichzeitig zu Évas jüngerem Spiegelbild und zur Partnerin – eine Projektionsfläche für Emotionen, die sich im Tanz entfalten. Wie sich die drei Frauen mit großem Respekt und sehr viel Sensibilität annähern und wie dabei das gegenseitige Verständnis wächst, hat etwas beglückend Normales – sie schaffen das ebenfalls über die Kunst: mit einer extremen Kraftanstrengung und mit einer Energie, die zuweilen sehr fordernd ist. Dabei erweist sich vor allem Éva als hoch motiviert – eine nimmermüde und ebenso kluge wie gut gelaunte Tänzerin, die sich über jeden kleinen Fortschritt freut.

Der Prozess, aus dem Verhältnis zwischen Éva und Emese einen tänzerischen Dialog zu gestalten, ist filmisch und dramaturgisch hoch interessant und spannend umgesetzt. Réka Szabó steigert das Tempo immer mehr, vom gemächlichen Anfang bis zum furiosen Finale, um dann wieder zur Ruhe zu kommen. Claudia Kovács leistet Meisterliches in der Bildgestaltung, ihre sensible Kamera fängt die Stimmung wunderbar ein. Sie hält Details fest: die Gesichter der Akteurinnen, ihre Hände, sprechende Lippen im Profil, Arme, die sich halten. Und der Bildschnitt von Sylvie Gadmer und Péter Sass ist schlicht genial. Einige sparsame Effekte wie Overlays und Bild-im-Bild-Aufnahmen unterstützen die Wirkung, vor allem am Ende, ebenso wie die moderne Musik zur Performance zwischen ungarischen Rhythmen und Sphärenklängen.

Im ersten Drittel dominiert inhaltlich das Kennenlernen – es gibt relativ wenig Bewegung, erste tänzerische Übungen, Erzählungen über Évas unbeschwerte Jugend und eine eher zurückhaltende Biographiearbeit. Im zweiten Drittel geht es dann inhaltlich stärker um die Traumata und ihre Verarbeitung, um das eigentlich Unfassbare, das Erlebte, über das Éva so scheinbar sachlich und gleichzeitig so furchterregend konkret spricht. Man sieht, wie ihre Worte die beiden anderen Frauen berühren. „Du kommst immer wieder an dieselbe Stelle zurück“, sagt Éva einmal. „Und unterdessen lebst du glücklich.“ Vergessen ist nicht möglich. Der ewige Kampf mit sich selbst, die Erinnerungen, die ständige Frage nach dem Warum … warum hat sie überlebt? Wie konnte sie überhaupt weiterleben? Warum mussten all die anderen sterben? Éva hat für sich eine Antwort gefunden: Sie lebt, um von den Schrecken zu berichten, die sie durchmachen musste. Und ja – sie kennt auch das Glück, sie kennt das Trotzdem, das Gerade-Deshalb. Im letzten Drittel des Films, parallel zur Generalprobe und zur Premiere, wächst die Lebensfreude sowohl inszenatorisch und choreographisch auf der Bühne als auch im Film. Die beiden Tänzerinnen finden gemeinsam über die Bewegung zum Glück, immer fröhlicher wird die alte Dame, ihre Unbeschwertheit hat zuweilen eine große kindliche Unbefangenheit. Das ist ebenso anrührend wie schön, in all dem Optimismus, der sich darin zeigt.

Dafür ist Kunst da – sie schafft Gefühle und spielt mit ihnen. Sie lässt Tränen fließen und trocknet sie wieder. Éva kann nicht mehr weinen, schon lange nicht mehr. Aber sie kann tanzen.

Gaby Sikorski