Das Märchen der Märchen

Zum Vergrößern klicken

Was für die Deutschen die Gebrüder Grimm sind, ist für die Italiener Giambattista Basile: Dessen Märchensammlung Das Pentameron inspirierte auch die Grimms und ist nun Anlass für Matteo Garrone, sich nach Mafia und Realty-TV mit einer Märchenwelt zu beschäftigen, in der er diverse Geschichte zu einem exzentrischen, bunten, bizarren Film verknüpft, der viel über die Obsessionen und Oberflächlichkeiten der modernen Welt erzählt.

Webseite: www.märchendermärchen-film.de

OT: Il Racconto di Racconti
Italien 2015
Regie: Matteo Garrone
Buch: Edoardo Albinati, Ugo Chiti, Matteo Garrone, Massimo Gaudioso, nach den Erzählungen von Giambattista Basile
Darsteller: Salma Hayek, Vincent Cassel, Toby Jones, Shirley Henderson, Jessie Cave, Hayley Carmichael, Alba Rohrwacher, John C. Reilly
Länge: 125 Minuten
Verleih: Concorde
Kinostart: 27. August 2015
 

FILMKRITIK:

Am Hof des Königs (John C. Reilly) amüsieren Gaukler und Akrobaten die Gesellschaft, allein die Königin (Selma Hayek) ist nicht amüsiert: Alles was sie will ist ein Baby, doch um das zu bekommen, muss ihr Gemahl ein Seeungeheuer erlegen, dessen Herz schließlich von einer Jungfrau gekocht werden muss. Der Plan gelingt, doch mit ungeahnten Folgen. Ein anderer König (Toby Jones) ist mehr an seiner Insektensammlung interessiert als am Wunsch seiner Tochter Fenizia (Jessie Cave), einen Gemahl zu finden. Bei einem Quiz soll ein Gatte gefunden werden, doch statt eines schmucken Prinz beantwortet ein hässlicher Oger die eigentlich unmöglich zu beantwortende Frage. Ein weiterer König (Vincent Cassel) verbringt seine Zeit am liebsten mit schönen Frauen. Diesmal hat er sich in eine liebreizende Stimme verliebt, doch die gehört der alten, hässlichen Dora (Hayley Carmichael). Im Dunkeln gibt sie sich dem König hin, dessen Neugier ihm jedoch keine Ruhe lässt: Bei Licht wirkt Dora ganz anders und so wird sie kurzerhand aus dem Schlossfenster geworfen. Doch das bedeutet in diesem Fall nicht ihren Tod, sondern die Verwandlung in eine schöne, holde Maid.

Märchen sind bekanntermaßen moralische Geschichten, die bei aller Gewalt und Brutalität, die ihnen oft eigen ist, all der merkwürdigen Wesen, die sie bevölkern, im Kern geradezu didaktische Intentionen haben. Man darf davon ausgehen, dass es nicht zuletzt dieser Anlass war, den Matteo Garrone nach seinem Mafiaepos „Gomorra“ und der Reality-TV Satire „Reality“ nun dazu veranlasste, die Erzählungen von Giambattista Basile zu verfilmen. Wie so viele Arthouse-Regisseure es momentan machen, drehte er auf Englisch, was zum einen ermöglichte, mit international bekannten Schauspielern zu arbeiten, die wohl für die Finanzierung unumgänglich waren, was seinem Film aber zum anderen eine zusätzlich künstliche Aura verleiht. Merkwürdig hölzern wirken die Dialoge bisweilen, ähnlich wie die zahlreichen Spezialeffekte, die so offensichtlich wie Computertricks aussehen, dass man kaum an schludrige Arbeit oder Geldmangel glauben mag.

Seltsam krude wirkt „Das Märchen der Märchen“ dadurch oft, was unmittelbar an Pier Paolo Pasolinis „Decameron“ oder „Erotische Geschichten aus 1001 Nacht“ denken lässt. Ähnlich wie dieses große Vorbild hält auch Garrone der zeitgenössischen Gesellschaft den Spiegel vor und erzählt auf mal unmittelbare, mal verklausulierte Weise vom Schönheitswahn, von Eitelkeit, von Missgunst und Gier. So entwickelt sich aus den drei weitestgehend autarken Episoden, die dennoch durch gelegentliches Auftauchen von Figuren in einer anderen Geschichte oder durch visuelle Dopplungen verknüpft sind, ein dichtes Geflecht, das für vielfältige Interpretationen offen ist. Wie tief man in die psychologischen Abgründe der Episoden gehen will bleibt jedem Zuschauer selbst überlassen. Doch auch wenn man nur die Oberfläche von „Das Märchen der Märchen“ betrachtet, bleibt Matteo Garrones Film ein reicher Bilderbogen, gedreht in prächtigen Kulissen, ausgestattet mit prunkvollen Kleidern, schönen und merkwürdigen Gestalten, kurz: ein enorm phantasievoller Film, der allzu leicht nur als schöner Schein wahrgenommen wird.
 
Michael Meyns