Das Milan-Protokoll

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Im Entführungs-Drama „Das Milan-Protokoll“ geht es um eine deutsche Ärztin, die im Irak radikalen Islamisten in die Hände fällt – und daraufhin zwischen die Fronten verfeindeter Gruppierungen und Geheimdienste gerät. Die an Originalschauplätzen gedrehte Produktion macht klar, wie komplex und verworren die Lage im Nordirak tatsächlich ist. Der Film, der von pulsierenden elektronischen Klängen angetrieben wird, profitiert von seiner beachtenswerten, vielschichtig gezeichneten Hauptfigur. Und: einer klugen, verschachtelten Erzählweise, die eine mitreißende Eigendynamik entwickelt.

Webseite: www.realfictionfilme.de

Deutschland 2017
Regie & Drehbuch: Peter Ott
Darsteller: Catrin Striebeck, Christoph Bach, Samy Abdel Fattah, Diman Zandi, Erol Afsin
Länge: 100 Minuten
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 18. Januar 2017

FILMKRITIK:

Die Ärztin Martina (Catrin Striebeck) arbeitet in der Kurdenregion im Norden Iraks für eine Hilfsorganisation. Das Gebiet ist gefährlich, liegt es doch an der Grenze zum „Islamischen Staat“. Bei einer Grenzfahrt kommt es zum Äußersten: Martina wird von einer IS-nahen, sunnitischen Gruppe gekidnappt, weil diese einen Waffentransport vermutet. Für Martina beginnt in der Gefangenschaft eine Zeit monatelanger Tortur. Auch, weil nie eindeutig klar ist, welche Interessen die involvierten Gruppen verfolgen: die sunnitischen Kämpfer, der IS, die Untergrundorganisation PKK, der deutsche und türkische Geheimdienst. Als ihre Befreiung durch den BND gelingt, ist das noch nicht das Ende des Martyriums.

Regisseur Peter Ott und sein Team drehten das „Milan-Protokoll“ in einem Kölner Studio sowie an Originalschauplätzen im Nordirak. Vor Drehbeginn unternahm Ott zudem einige Recherchereisen in die Region. Bekannt wurde der in Hamburg und Stuttgart lebende Filmemacher und Drehbuchautor 2007 mit der Doku „Übriggeblieben ausgereifte Haltungen“ über die Band „Die Goldenen Zitronen“. Weltpremiere feierte „Das Milan-Protokoll“ auf dem diesjährigen Filmfest Mannheim-Heidelberg.

„Das Milan-Protokoll“ gewährt dem Kinozuschauer einen intensiven, wahrhaftigen Einblick in die politische Gegenwart einer der gefährlichsten Regionen nicht nur im Nahen Osten, sondern weltweit. Ein Pulverfass, das jederzeit zu explodieren droht und in dem viele unterschiedliche Parteien, Ethnien und Religionen um die Vorherrschaft kämpfen.  Der Film dringt sehr tief in die Gegebenheiten vor Ort ein und veranschaulicht am Beispiel der Entführung von Martina, wie konfus die (politische) Situation vor allem in der Autonomen Region Kurdistan wirklich ist.

Zudem verfügt der Film mit der Ärztin über eine starke, alles andere als naive Hauptfigur, die den Film trägt. Sie spricht fließend Arabisch und Kurdisch und kennt die Region ebenso wie ihre Gefahren, sehr gut. Catrin Striebeck legt ihre Filmfigur glaubhaft als idealistischen, intelligenten und jederzeit klug reflektierenden Charakter an, dessen Schicksal dem Zuschauer nicht gleichgültig ist. Weder während der Zeit in der Gefangenschaft, noch der daran anknüpfenden  Befragung durch den mysteriösen Geheimdienstler Moses (gekonnt nebulös von Christoph Bach verkörpert). Schnell wird klar, dass der BND-Mitarbeiter eine undurchsichtige Person mit unklaren Absichten ist.

Es entwickelt sich ein packendes, scheinbar doppeldeutiges Frage-Antwort-Spiel zwischen Geheimdienstmitarbeiter und Ex-Geisel, das sogar noch mehr Spannung bietet als die Ereignisse in Gefangenschaft. Ein Großteil seiner Spannung hat der Film auch der Erzählweise zu verdanken, auch wenn dadurch der Ausgang der Geiselnahme natürlich vorweggenommen wird: aber durch die verschachtelte, nicht chronologische Erzählung, in der zwischen Gegenwart und Vergangenheit dramaturgisch clever gewechselt wird, erfährt der Film eine ganz eigene und dringliche Dynamik. Angetrieben und verstärkt werden die Ereignisse zudem durch einen treibend-fiebrigen, unruhigen Elektro-Soundtrack, der die Nervosität und Anspannung aller Beteiligten musikalisch gekonnt untermauert.

Empfehlenswert wäre gewesen, dem Betrachter die ein oder andere Information mehr zu den komplizierten Hintergründen und der aktuellen Situation im Nordirak, zu liefern. In Form von erklärenden Info-Texten etwa. Ohne Vorwissen und jegliche Kenntnis der Lage ist es nicht leicht, immer den Überblick über alle handelnden Personen und Gruppen zu behalten. Die einzige (verschmerzbare) Schwäche des Films.

Björn Schneider