Das radikal Böse

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Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky ("Die Fälscher") hat sich an ein ebenso heikles wie hartes Thema gewagt – und meistert es mit grandioser Bravour! Er widmet sich nichts Geringerem als dem Bösen: Der Bestie im Menschen am Beispiel der deutschen Massaker an jüdischen Zivilisten während des Zweiten Weltkriegs. Wie kann es geschehen, dass liebevolle Familienväter zu mitleidlosen Massenmördern mutieren, die Frauen und Kinder erschießen? Einblick in diese Mechanismen geben Originalaussagen jener Zeit, bebildert mit nachgestellten Spielszenen, die Gesichter in Großaufnahmen zeigen. Den psychologischen Unterbau liefern ausgewiesene Experten. Daraus entsteht visuell und erzählerisch ein Film-Essay, das es in sich hat - ein erschreckender Horrorfilm über unfassbare Abgründe des Lebens. Wenn es in diesem Kinojahr Pflichtfilme gibt, dann gehört diese radikale Meisterleistung absolut dazu.

Webseite: www.wfilm.de

D / Ö 2013
Buch und Regie: Stefan Ruzowitzky
Stimmen: Alexander Fehling, Benno Fürmann, Simon Schwarz, Devid Striesow, Nicolette Krebitz
Filmlänge: 96 Minuten
Verleih: W-film
Kinostart: 16. Januar 2014

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

„Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlich ist, das sind die normalen Menschen." Mit diesem Zitat des Schriftstellers Primo Levi, einem KZ-Überlebenden, beginnt Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky seine Dokumentation. Fortan wird der Regisseur die Täter zu Wort kommen lassen: In Briefen, Tagebuch-Einträgen oder Gerichtsprotokollen, die von Schauspielern wie Alexander Fehling, Benno Fürmann, Devid Striesow oder Nicolette Krebitz vorgelesen werden. Bebildert werden diese Originalaussagen mit nachgestellten Aufnahmen junger Soldaten, unschuldig wirkender Gesichter von unbekannten Komparsen in Großaufnahmen. So mögen sie ausgesehen haben, diese ganz normalen Menschen, die zu Massenmorden fähig waren, brave Familienväter, die Frauen und Kinder erschossen. Warum das möglich war, erläutern Psychologen und Historiker, die zu den hochkarätigen Fachleuten auf ihrem Gebiet gehören. Darunter Benjamin Ferencz, der Chefankläger im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess; Christopher Browning, einer der wichtigsten Holocaust-Forscher und Autor von „Ganz normale Männer“; Robert Jay Lifton, ein Begründer der „Psychohistory“ sowie der amerikanische Militärpsychologe Dave Gossman, der ein Standardwerk zur Psychologie des Soldaten im Kampfeinsatz verfasste.

Ergänzt werden die Aussagen der Wissenschaftler durch die theaterhaft minimalistisch inszenierte Darstellung der drei wohl berühmtesten psychologischen Experimente über Macht und Ohnmacht: Das „Konformitätsexperiment von Asch“, das den fatalen Einfluss von Gruppenzwang aufzeigt. Das „Miligram-Experiment“, das die freiwillige Unterordnung unter Autoritäten bis hin zum Mord vorführt. Und schließlich das „Standford-Experiment“, das Menschen in Uniform zu Sadisten werden lässt – und das 2001 als Grundlage für den Psycho-Thriller „Das Experiment“ von Oliver Hirschbiegel diente.

Durch die geschickte Verwendung und Vermischung dieser verschiedenen Stilmittel gelingt es Ruzowitzky, einen Film jenseits der üblichen Doku-Muster zu machen, die nicht selten zum trägen Vortrag geraten. Insbesondere jene Splitscreen-Aufnahmen der nachgestellten Spielszenen mit Großaufnahmen der Gesichter, die mit den eingesprochenen Original-Aussagen unterlegt werden, sorgen für eine mehr als gespenstische Atmosphäre. Zu den Berichten, wie sie die Erschießungen zunächst angewidert vornehmen, sich dann an das tägliche Morden gewöhnen, es technokratisch organisieren und nichts Ungerechtes dabei finden, laufen idyllische Bilder vom sommerlichen Baden im See oder Ballspielen am Waldrand. „Die Kamera ist der Zuschauer, und ich wollte, dass der Zuschauer immer unter den Mördern ist“, erläutert Ruzowitzky sein Konzept.

Sein Essay ist und macht nachdenklich. Die Doku entgeht der Falle, Faschismus auf bloße Psychologie und Verführung zu reduzieren, ohne die politischen Dimensionen zu benennen. Diese filmische Bestandsaufnahme vermeidet zudem, die Täter zu Opfern zu machen, die als bloße Befehlsempfänger entschuldigt werden. Eine Verweigerung des Mordens war durchaus möglich, wie an einigen, wenngleich wenigen Beispielen demonstriert wird. Die meisten Uniformierten freilich mutierten erschreckend leicht zu Mitläufern – eine Erkenntnis, die als zeitlose Warnung gelten muss, wie latent die Gefahren von Verführung und Verrohung bis heute bestehen. Nicht umsonst heißt die bittere Bilanz des Holocaust-Forschers Père Desbois: „Es stört mich, wenn von unmenschlichen Taten die Rede ist. Schön wär‘s! Leider ist Genozid etwas zutiefst Menschliches.“

Dieter Oßwald