Der Bär in mir

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Absolut faszinierend, dabei auf angenehme Weise expressiv und leidenschaftlich: Der Schweizer Dokumentarfilmer Roman Droux begleitet den bekannten Bärenforscher David Bittner nach Alaska, wo sie den arktischen Sommer unter Grizzlybären verbringen. Kino pur mit großen Gefühlen und unvergesslichen Bildern von atemstockender Schönheit – die Geschichte der beiden mutigen Menschen, die als Lehrmeister und Schüler mit der Kamera in die Wildnis ziehen, ist eine packende Reise zurück zur Natur und zu den Ursprüngen des Menschen, die von Instinkten, Mythen und Ängsten gesteuert wird.

Webseite: http://derbaerinmir.com

Dokumentarfilm
Schweiz 2019
Drehbuch, Kamera und Regie: Roman Droux
Musik: Bänz Isler, Sandra Stalder
Verleih: MFA+, Vertrieb: Die Filmagentinnen
Kinostart: 15. Oktober 2020

FILMKRITIK:

David Bittner ist nicht nur in der deutschsprachigen Schweiz bekannt: Als Biologe und Bärenforscher hält er neben seiner wissenschaftlichen Arbeit viele Vorträge, er schreibt Bücher und ist als Naturfotograf tätig. Schon als Jugendlicher interessierte er sich für die Natur – über das Kajakfahren und die Erlebnisse mit Lachswanderungen kam er zu den Bären und blieb dabei. Der Filmemacher Roman Droux ist zwar erklärter Bärenfan, hat aber noch keine praktischen Erfahrungen im näheren Umgang mit Grizzlys, als er gemeinsam mit David Bittner aufbricht, um einen Sommer an der Küste von Alaska zu verbringen. Nachdem sie ihr Lager mitten in der Wildnis mit Blick aufs Meer und auf die majestätischen Berggipfel aufgebaut haben – zwei moderne Zelte sowie ein Vorratszelt, alles umgeben von einem elektrischen Schafszaun –, dauert es eine Weile, bis Roman sich traut, die schützende Behausung zu verlassen. Die riesigen Grizzlys, die draußen herumspazieren, flößen ihm ordentlich Respekt ein. Doch David Bittner ist ein guter Lehrmeister und bringt dem Regisseur schnell die wichtigsten Regeln im Umgang mit den größten Braunbären der Welt bei. Hier draußen leben deutlich mehr Grizzlys als Menschen, und in diesem Sommer wird Roman Droux viele von ihnen näher kennenlernen: den alten Oliver, Bruno – den Big Boss der Lagune, die Bärenmutter mit ihren drei Jungen und viele andere. Unter Anleitung von David entdeckt Roman Droux die Welt der Bären und die Bären selbst als Individuum. Zwischen den Tieren, die er nur hinter Gittern im Zoo kannte, und den wild lebenden Grizzlys in ihrem natürlichen Lebensraum findet er immer weniger Gemeinsamkeiten, stattdessen entdeckt er den Bären in sich selbst.

In grandiosen Naturaufnahmen erzählt Roman Droux die Geschichte eines Sommers – vom Erwachen der Bären aus dem Winterschlaf bis zu den ersten Schneefällen. Unterschiedliche Erzählebenen, die rückblickend Davids und Romans Jugend darstellen, dienen anfangs als Einstieg in die Situation: der Lehrmeister und sein Schüler. Ohne die Bären zu vermenschlichen – es ist eher umgekehrt: die beiden Männer werden immer bäriger – und mit großem Respekt vor den gewaltigen Tieren nähert sich der Filmemacher den Grizzlys mit wachsendem Mut. Der Mensch ist hier ein Fremdkörper, und Roman Droux lernt schnell von David Bittner, dass er warten muss, bis die Bären auf ihn zu kommen. Warten, sitzen, warten … hier wird man geduldig und gelassen, denn anders geht es nicht.

Die Bilder von Bären aus unmittelbarer Nähe sind überwältigend, sie zeigen das Bärenleben in all seinen Facetten: flirtende Bärenweibchen, streitlustige Rivalen, zärtlich zausende Mamas, drollig herumpurzelnde Jungbärchen, die einfach schlafend umfallen, wenn sie satt sind – aber auch Grizzlys, die wie Kühe auf der Weide stehen und vor Hunger Gras fressen, geschwächte Bärenmütter, die ihre Jungen nicht mehr verteidigen können, und ein verletzter, erschöpfter Jungbär, der von der Familie aufgegeben wird. Erst im Hochsommer folgt die Erlösung: Die Lachse kommen, und damit endlich Nahrung für die ausgehungerten Bären.

Als dramaturgische Klammer dient zusätzlich zum chronologischen Ablauf Davids Suche nach seinen Lieblingsbären Balu und Luna. Das bringt zusätzliche Spannung in die Story. Die Bilder, mit unterschiedlichen Kameras und sogar teils unter Wasser aufgenommen, sind großartig montiert, die Musik schwelgt gelegentlich in sehr offensiven Streicherklängen, doch nur selten kommt Kitschverdacht auf. Noch gesteigert durch die Ich-Form der Erzählung des Filmemachers geht es um große Gefühle, die sich angesichts der atemberaubend schönen Landschaft und des großen Abenteuers, das die beiden Männer gemeinsam erleben dürfen, unmittelbar auf das Publikum übertragen. Neugier, Abenteuerlust, Freude, Begeisterung, Angst, Entsetzen und Sorge liegen dabei dicht beieinander, denn die Natur, so schön und ursprünglich sie ist, erweist sich oft als grausam. Doch David und Roman greifen nicht in das Geschehen ein. Ebenso tabu wie die Berührung der Bären ist es, ihre Verletzungen zu behandeln oder sie zu füttern. Ein toter Grizzly, der von einem Artgenossen als Nahrungsdepot vergraben wurde, könnte Davids Bärenfreund Balu sein, doch die Männer hüten sich, den Kadaver auszugraben, was andere Bären anlocken könnte. Denn die Gefahr, die von den riesigen Grizzlys ausgeht, ist allgegenwärtig, lediglich die Beobachterposition garantiert eine gewisse Sicherheit, als mehr oder weniger für Bären uninteressante Präsenz in Form einer selbstverständlichen Anwesenheit – ein nicht gerade typisches Verhalten für den Menschen, der sich sonst so gern in den Vordergrund drängt, um die Kontrolle zu übernehmen. Die Bären spielen schon mal mit der Kamera, aber sie lassen die beiden Männer in Ruhe. Mehr und mehr festigt sich der Eindruck, dass es auch der Mythos des Bären ist, der Nähe und Distanz zugleich schafft. Und wenn die Geschichte vom Fuchs zitiert wird, mit dem der „Kleine Prinz“ Freundschaft schließen will, dann geht es nicht nur um das Verständnis zwischen Bär und Mensch, sondern generell um die Natur als Heimat des Menschen, die er mit allen Lebewesen teilt.

Gaby Sikorski