Der Distelfink

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Ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Roman verdient auch eine Verfilmung, die der Essenz des Werks nicht nur gerecht wird, sondern die Stärken des Mediums zu nutzen weiß. Wo Donna Tartts Roman „Der Distelfink“ Bilder vor dem geistigen Auge des Zuschauers entstehen lässt, schwelgt John Crowleys Film in magisch-schönen Bildern, die von Meister-Kameramann Roger Deakins, der häufig mit Sam Mendes, den Coen-Brüdern und Denis Villeneuve gearbeitet hat, prachtvoll umgesetzt wurden. Jedes Bild ist wie ein Gemälde komponiert und trägt die Geschichte eines jungen Mannes, der als Kind seine Mutter durch einen Bombenanschlag verliert und dessen Lebensweg aus der Bahn geworfen wird.

The Goldfinch
USA 2019
Regie: John Crowley
Buch: Peter Straughan
Darsteller: Ansel Elgort, Finn Wolfhard, Nicole Kidman
Länge: 150 Minuten
Verleih: Warner Bros.
Kinostart: 26. September 2019
 

FILMKRITIK:

Es gibt die Zeit davor und die Zeit danach – und dazwischen diesen einen Moment, an dem alles anders wurde, illustriert von Carel Fabritius‘ kleinformatigem Gemälde „Der Distelfink“, das kurz vor seinem Tod im Jahr 1654 entstanden ist. Fabritius starb, als die Delfter Pulvermühle, neben der er wohnte, in die Luft flog. Überlebt hat „Der Distelfink“, der für einen anderen Überlebenden zum Symbolbild eines anderen, wohl besseren Lebens wird.

Theo (Oakes Fegley) besucht mit seiner Mutter ein Museum, als eine Bombe explodiert. Viele Menschen sterben, darunter auch Theos Mutter. Danach leistet er einem Sterbenden Trost, der ihn nicht nur dazu motiviert, das Gemälde „Der Distelfink“ an sich zu nehmen, sondern ihn auch auf seinen Weg bringt – einer Zukunft entgegen, die er sonst vielleicht nie entdeckt hätte. Aber Theo ist auch ein Verlorener, der von einer reichen Pflegefamilie aufgenommen, dann aber aus dieser wieder herausgerissen wird. Als erwachsener Mann (Ansel Elgort) arbeitet er in New York als Antiquitätenhändler, liebt die falsche Frau und trifft jemanden aus seiner Vergangenheit wieder. Ein Treffen, das Theos Leben erneut auf den Kopf stellt.

Manche Bilder in John Crowleys Film muten an wie lebendig gewordene Gemälde. Man könnte sich in ihnen verlieren, würde die Geschichte einen nicht an die Hand nehmen und zum nächsten, nicht minder schönen Moment geleiten. John Crowley ist ein Film geglückt, der aufs Herz abzielt, der von einem Leben erzählt, das nicht das ist, was es hätte sein können, das aber auch seine Momente hat. Zumindest hin und wieder antwortet Theo auf die Frage, ob er glücklich sei, mit den Worten: „Nicht besonders.“

Weil es für ihn auch diesen Moment gibt, an dem alles anders wurde. Im Grunde lebt Theo in diesem Moment, dem durch das Gemälde des Distelfinks Form gegeben wurde. Er hat alles verloren, und hatte ohnehin schon nicht viel, aber auch etwas erhalten. Hätte seine Mutter überlebt, hätte sich sein Leben anders entwickelt, die Passion für Antiquitäten, die ihn durchs Erwachsenenleben trägt, wäre aber vielleicht nie entdeckt und gefördert worden.

In „Der Distelfink“ geht es um Momente. Solche, die das Leben definieren. Die mit purer Emotion aufgeladen sind, die trauern, aber auch lachen, bangen, aber auch hoffen lassen, die in ihrer Wirkkraft mächtig und doch flüchtig zugleich sind. Sie sind das Destillat dessen, was ein Leben sein kann, vielleicht auch sein muss.

„Der Distelfink“ ist eine Sammlung solcher Momente und zugleich mehr als die Summe aller Teile. Hier geht alles Hand in Hand: Eine exakt erzählte, charakterlich tiefgreifende Geschichte, eine den Zuschauer umschmeichelnde Musik, eine imposante Inszenierung, Bilder, die sich ins Gedächtnis einbrennen, und ein Ensemble, das von den Jungdarstellern um Newcomer Oakes Fegley bis zu den gestandenen Mimen wie Ansel Elgort und Jeffrey Wright, nicht erlesener sein könnte. Am Ende steht ein Film, den man nicht mehr vergisst.

Peter Osteried