Bei der Recherche nach der Mutter ihres Vaters stößt Regisseurin Kathrin Jahrreiss auf das Leben dreier sehr unterschiedlicher Brüder. Es ist der Beginn einer sehr persönlichen Spurensuche und die Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie – von der NS-Zeit über das geteilte Deutschland bis in die Gegenwart. „Der dritte Bruder“ ist ein bewegendes dokumentarisches Krimi-Puzzle, das den Zuschauer herausfordert und mit drängenden Fragen unserer Zeit konfrontiert. Ebenso informativ wie emotional.
Über den Film
Originaltitel
Der Dritte Bruder
Deutscher Titel
Der Dritte Bruder
Produktionsland
DEU
Filmdauer
110 min
Produktionsjahr
2024
Produzent
Ester, Roswitha / Reglin, Torsten
Regisseur
Jahrreiß, Kathrin
Verleih
Real Fiction
Starttermin
01.05.2025
Ausgangspunkt für die Recherchen von Kathrin Jahrreiss ist ihre Oma, die Jüdin Ruth Mannheim, von deren Tod in Auschwitz Kathrins Vater Walther erst spät erfährt. Ihm und seinem Bruder sagte man, die Mutter sei in einem Sanatorium gestorben. Auf der Suche nach den wahren Hintergründen von Ruths Verschwinden und ihrem Schicksal im KZ stößt sie auf immer mehr Informationen zu den Lebenswegen dreier Brüder: Ihres Großvaters Otto (Walthers Vater) und seiner Brüder Herrmann und Walther. Herrmann macht im NS-Staat Karriere als Völkerrechtler und verteidigt nach dem Krieg in Nürnberg Kriegsverbrecher Alfred Jodl. Herrmanns Brüder haben jüdische Frauen. Während der NS-Diktatur emigrieren Walther und seine Frau in die USA und der „dritte Bruder“, Kathrins Großvater Otto, verbleibt nach dem Tod von Ruth in Ostdeutschland.
Wie eine Detektivin erforscht Jahrreiss die Biografien der titelgebenden Brüder, deren Leben nicht unterschiedlicher hätten verlaufen können. Und die sich scheinbar jeweils an unterschiedlichen Enden politischer Ideologien und Systeme befanden. Immer an Jahrreiss‘ Seite ist ihr Vater Walther, der direkt mit den Recherchen und Entdeckungen aus dem Familienarchiv konfrontiert wird. Schließlich geht es in dieser nachhaltigen, bewegenden Doku auch um seine Eltern, Otto und Ruth.
Je länger der Film dauert und je mehr Briefe und alte Dokumente Vater und Tochter gemeinsam (und nicht selten unter Tränen) durchforsten, desto mehr Licht kommt ins Dunkel. Bisweilen mutet „Der dritte Bruder“ daher wie ein Mix aus Doku und Krimi-Puzzle an, wenn sich allmählich die einzelnen Mosaikteilchen in den Biografien aller Beteiligten zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenfügen. Dies erfordert einerseits Konzentration und aufmerksames Verfolgen aufseiten des Zuschauers. Doch die immer neuen Infos und aufgedeckten Vorkommnisse sowie historischen Zusammenhänge lassen einen das Geschehen gebannt verfolgen.
Es zeigt sich, dass Ruth höchstwahrscheinlich von den eigenen Nachbarn verraten wurde. Sie landet in der NS-Todesfabrik in Auschwitz. Otto kommt wenig später, nachdem er eine Todesanzeige in der Zeitung aufgegeben hatte und damit klar war, dass er mit einer Jüdin verheiratet war, in Schutzhaft. Später, in der DDR, wird er selbst zu einem Spielball des totalitären Ein-Parteien-Systems und zum Denunzianten. Jahrreiss besucht mit ihrem Vater die tragischen Orte der Familiengeschichte, dazu zählen der ehemalige Güterbahnhof in Dresden (der Ort von Ruths Deportation) sowie die KZ-Gedenkstätte in Auschwitz.
Ein zentrales Element sind die bereits erwähnten Briefe, aus denen vielfach zitiert wird. Die Zeilen machen die Not und Hilflosigkeit der Absender deutlich. Es sind etwa Briefe von Ruth an ihren Schwager Walther in den USA (vor der Deportation), aber auch verzweifelte Botschaften von Otto an seine Frau nach Auschwitz – die jedoch nie ankommen. In der zweiten Filmhälfte rückt „Der dritte Bruder“ die Biografien von Walther, Herrmann und Otto nach dem Ende der NS-Zeit ins Zentrum.
Der Grundkonflikt, der das Verhältnis der Brüder bis an ihr Lebensende prägen sollte: Zwei von ihnen leiden während der Nazi-Zeit, da ihre Frauen Nazis sind. Und Jurist Herrmann, angesehener Professor für Rechtswissenschaft, verteidigt die Täter. Wie hätte man sich selbst in diesen unmenschlichen Zeiten und diesem politischen System verhalten? Wie steht es um die eigene Haltung im Spannungsfeld zwischen Familie, Karriere und System? Auch diese Fragen wirft „Der dritte Bruder“ auf, der Themen wie Verdrängung, Sprachlosigkeit, unterdrückte Gefühle und familiäre Ohnmacht verhandelt.
Am Ende dieser filmischen Reise der Regisseurin, in der sie fast ein komplettes Jahrhundert Familien-, Vorkriegs-, NS- und Deutsch-Deutsche-Geschichte aufarbeitet, steht fest: Die Antwort auf die Frage danach, wer Opfer und wer Täter ist, ist mitunter höchst komplex und erfordert genaues, akkurates Hinsehen.
Björn Schneider