Der Geschmack von Rost und Knochen

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Schwertwale, die hier mehrere Male über die Leinwand gleiten, vereinen in ihrer Bewegung Wucht und Eleganz, Bestialität und Grazie. Den faszinierenden Schwung dieser riesigen Meereslebewesen überträgt Jacques Audiard ("Ein Prophet") auf seine ungestüme und facettenreiche Erzählung von den Überlebensstrategien zweier Menschen, couragiert gespielt von Marion Cotillard und Matthias Schoenaerts. Auf diese Weise entsteht eine Liebesgeschichte, die schlichtweg überwältigt. Sie lief im Wettbewerb von Cannes und erhielt den großen Preis des Filmfestivals von Cabourg.

Webseite: www.wildbunch-germany.de

Frankreich 2012
O: De rouille et d'os
R: Jacques Audiard
D: Marion Cotillard, Matthias Schoenaerts, Armand Verdure, Céline Sallette, Bouli Lanners
M: Alexandre Desplat
L: 120 Min., OmdU
Verleih: Wild Bunch Germany
Start: 10. Januar 2013

PRESSESTIMMEN:

"...eine unglaubliche Liebesgeschichte, die - eine bewusst kühne Spekulation im Januar - wohl intensivste, berührendste dieses Jahres."
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

FILMKRITIK:

Obgleich hier eine Geschichte aus der anderen sprießt, strahlen die vielen Fokusverschiebungen eine konstant hohe Energie aus. In der ersten Szene trampt Alain (Matthias Schoenaerts), ein arbeitsloser Gelegenheitsboxer von Belgien aus in den Mittelmeerort Antibes. Mit seinem kleinen Sohn Sam, den er gerade von dessen drogendealender Mutter übernahm, möchte er bei seiner Schwester, einer Kassiererin, Unterkunft und Arbeit finden. Als Türsteher einer Diskothek begegnet er zum ersten Mal Stéphanie (Marion Cotillard), die als Wal-Trainerin im Marinepark kurz darauf durch einen Tribüneneinsturz beide Unterschenkel verliert. Zwischen dem dickköpfigen, wortkargen Alain und der nachdenklichen Stéphanie entspinnt sich eine Freundschaft, dann eine nüchterne Liebesgeschichte, schließlich eine innige Verbundenheit. Alain beginnt in Hinterhöfen für private Wetten zu boxen, er nimmt illegale Geschäfte an und am Ende muss er seinen Sohn retten. Doch entgegen allen dramatischen und schockierenden Ansätzen bleibt die Erzählung weder als depressives Melodram, als Milieustudie, Romanze oder reiner Existenzkampf stehen.

Warum der Film jederzeit berührt und fesselt, ist der eigenwilligen Herangehensweise von Jacques Audiard zuzuschreiben. Seine Kamera, häufig aus der Hand geführt, wählt individuelle Perspektiven, oft die Blickwinkel der Figuren, erfasst sie beiläufig über die Schulter, durch die Autoscheibe, auf dem Weg zur Umkleidekabine. Panoramen dienen nur als Hintergründe. Nicht das Meer kommt ins Bild, sondern die Sicht aufs Meer. Nebenher und prägnant gelingt es Audiard auch, über das gezeigte heimliche Installieren von Überwachungsvideoanlagen das Thema Ausbeutung und Arbeitslosigkeit anzuschneiden. In vielen Nahaufnahmen entwickelt Audiard einen rauen und sinnlichen Realismus.

Seine Charaktere sind ständig in Bewegung, sie kämpfen mit anderen oder stumm mit sich selbst, sie machen Fehler, leiden, zweifeln und behalten dennoch ihre Geheimnis, da sie nicht wortreich enthüllen, was sie denken. Sie entwickeln sich und sie ziehen Kraft aus der stillen Überwindung. Stéphanie, für eine Weile sehr blass und in Trauer versunken, findet auf dem Rücken von Alain wieder ins Meer. Mit Alain, der nur Erfahrungen in One-Night-Stands hat, entdeckt sie die körperliche Liebe und ihre Lebensgeister wieder. Eine der innigsten Szenen des Films ist die, in der sie an ihren alten Arbeitsort, das Marineland, zurückkehrt, vor einer dicken Glasscheibe steht und durch das undurchdringliche Glas hindurch zärtlich einen Schwertwal streichelt. Später krempelt sie auf der Straße die Hosenbeine hoch, um ihre Prothesen zu zeigen. Die durch VFX-Digitaltechnik als amputiert dargestellten Beine sind so häufig im Bild, dass sie irgendwann nicht mehr auffallen.

Viele Elemente könnten einer griechischen Tragödie entnommen sein, hier finden sie eine nüchterne Einbindung. Die Hauptfiguren wirken nicht deprimierend oder brutal, sie suchen und finden ein menschliches Verhalten. So wendet sich Stéphanie einmal an Alain: "Was bin ich für Dich? Ein Kumpel, eine Freundin? Wenn es zwischen uns weitergeht, müssen wir es richtig machen. Mit Manieren und Feingefühl, nicht wie die Tiere." Jacques Audiard, vielfach preisgekrönt für "Ein Prophet" (unter anderem mit dem César und Bafta-Award) und für "Der wilde Schlag meines Herzens" (unter anderem mit dem Goldenen Bären), erzählt eine sehr emotionale, mutige und moderne Liebesgeschichte, die in ihrer Poesie und Wildheit fasziniert.

DOROTHEE TACKMANN

Stéphanie hat einen Beruf, der ihr Freude macht. Sie trainiert an der französischen Mittelmeerküste in einer Wal-Station Orkas und führt sie den begeisterten Zuschauern vor. Bis eines Tages einer der Riesenfische zuschnappt. Beide Beine müssen amputiert werden. Stéphanies Leben ist grau geworden.

Ali ist mittellos. Er hat früher geboxt, ist manchmal Türsteher, dann wieder Security-Mann. Er ist mit seinem fünfjährigen Sohn Sam unterwegs nach Südfrankreich zu seiner Schwester Anna. Die beiden haben weder genug zu essen noch wissen sie immer genau, wo sie nächtigen können. Immerhin wird Anna sich des Kleinen annehmen.

Ali und Stéphanie lernen sich per Zufall kennen. Ali ist ein unberechenbarer, gleichgültiger, egoistischer, eher brutaler Kerl. Er lebt vorwiegend von illegalen Kämpfen und vom Ausspionieren der Angestellten einer großen Firma, was sogar die Entlassung seiner eigenen Schwester nach sich zieht. Er kümmert sich lange nur um sich selbst – und ein wenig um seinen Sohn.

Hat er etwa doch ein Herz? Als Stéphanie ihn anruft, nimmt er sich ihrer an. Er trägt die Beinamputierte herum, nimmt sie mit zum Schwimmen, schläft mit ihr, jedoch nur weil herausgefunden werden soll, „ob noch alles funktioniert“. Andere Frauen spielen daneben durchaus eine Rolle. Aber Stéphanie beginnt wieder zu leben. Und dann keimt zwischen diesen beiden derart unterschiedlichen Menschen langsam Liebe auf. Der letzte emotionale Anstoß: als der kleine Sam fast ertrinkt. Nun kann die drei nichts mehr trennen.

Wie das Innen- und das Außenleben dieser beiden Menschen beleuchtet und dargestellt wird, das ist schon sagenhaft. Alis anfängliche Brutalität und Stéphanies Trauer, die psychischen Zustände, die ausbrechende Realität, die Gegensätze und doch die Anziehungskraft, man kann sie lebhaft nachempfinden. Filmisch ausgedrückt wurde das kontrastreich, lebhaft, schnell, manchmal sachlich, manchmal melodramatisch. Der Film hinterlässt sowohl künstlerisch als auch gefühlsmäßig einen starken Eindruck.

Mit am stärksten sind zusätzlich die schauspielerischen Leistungen von Marion Cotillard als Stéphanie und von Matthias Schoenaerts als Ali. Von Marion Cotillard weiß man schon lange, dass sie zur Spitze gehört. Aber dass der Belgier Matthias Schoenaerts der Figur des Ali eine solche Ausdrucksstärke und eine solche Kraft zu verleihen imstande ist, konnte man nicht ahnen.

Thomas Engel