Der Junge und der Reiher

Zum Vergrößern klicken

In seinem nun vielleicht wirklich letzten Film „Der Junge und der Reiher“ variiert der große japanische Regisseur Hayao Miyazaki noch einmal viele der Themen, Motive und Figuren, die Fans seines Werkes seit Jahrzehnten kennen und schätzen und erzählt lose autobiographisch vom Aufwachsen während des Zweiten Weltkriegs. Zwar erfindet sich Miyazaki nicht neu, aber ihn beim Variieren seiner typischen Themen zu folgen, erweist sich einmal mehr als großes, bildgewaltiges Vergnügen.

Kimitachi wa Dō Ikiru ka
Japan 2023
Regie & Buch: Hayao Miyazaki
Animationsfilm

Länge: 124 Minuten
Verleih: Wild Bunch/ Central
Kinostart: 4. Januar 2024

FILMKRITIK:

Vor zehn Jahren drehte der große japanische Regisseur Hayao Miyazaki „Wie der Wind sich hebt“, der sein letzter sein sollte. Wenn Miyazaki nun, mit über 80 Jahren doch noch einen Film vorlegt, der auch noch lose autobiographische Züge trägt, steigen die Erwartungen natürlich sprunghaft. Man sollte sie jedoch zügeln, man sollte „Der Junge und der Reiher“ weniger als großes künstlerischen Statement verstehen, sondern als Pastiche, als Spiel mit den typischen Themen, Motiven und Figuren, die Miyazaki zu einem der einflussreichsten Regisseure der letzten Jahrzehnte gemacht haben.

Der Junge des Titels heißt Mahito, ist 12 Jahre alt und wächst während des Zweiten Weltkriegs in Tokio auf. So wie Miyazaki selbst, der 1941 geboren wurde, erlebt auch Mahito einen der Luftangriffe auf die japanische Hauptstadt, einen Feuersturm, bei dem seine Mutter stirbt (Miyazakis überlebte den Krieg). Sein Vater, ein Flugzeugingenieur (so wie auch Miyazakis Vater) zieht mit der Familie aufs sichere Land, in ein verlassenes Haus, zu einer neuen Frau, die bald schwanger ist.

Und hier taucht der Reiher auf, eine typische Miyazakihafte anthropomorphe Figur, ein Wesen, in dessen Schnabel eine menschliche Gestalt zu Hausen scheint, eine ambivalente Figur, deren Absichten lange unklar bleiben. Der Reiher führt Mahito in eine Parallelwelt, in der der Film nach einem etwas behäbigen Beginn Rasanz aufnimmt, fast überbordend wird. Eine magische Bibliothek betritt Mahito, auf einem verwunschenen Schiff begegnet er seltsamen Wesen namens Warawara und auf einer Chaiselongue liegt eine Frau, die wie Mahitos Mutter aussieht – aber auch eine Gestalt aus der griechischen Mythologie sein könnte.

Je besser man sich in Miyazakis Filmen, in Miyazakis Welt, auskennt, um so mehr Bekanntes wird man entdecken: Die Faszination für westliche Erzählungen, für Mythen und Märchen, die Begeisterung für Flugzeuge, die Beschäftigung mit Verlust und Traumata, seltsame Wesen, die mal skurril, mal grotesk erscheinen, ein kaum merkliches Verwischen von Realität und magischen Welten. Altbekannt mag das sein, aber auch unverwechselbar. Ein so großer, spektakulär Wurf wie „Mein Nachbar Totoro“ oder „Chihiros Reise ins Zauberland“ ist „Der Junge und der Reiher“ nicht geworden, stattdessen ein klassisches Alterswerk, in dem ein großer Regisseur Rückblick auf sein Œuvre hält, Motive und Themen variiert und noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, dazu einlädt, zwei Stunden in der phantastischen Welt von Hayao Miyazaki zu verbringen.

 

Michael Meyns