Ein Leben voller unerfüllter Träume, Schicksalsschläge und Hoffnungen, die große Lebensliebe doch noch für sich zu gewinnen. Davon erzählt das italienische Drama „Der Kolibri“, das sich über mehrere Dekaden erstreckt und unterschiedliche Zeitebenen verbindet. Unter der Regie der Italienerin Francesca Archibugi entstand eine vielschichtige, epische Familienchronik, deren rätselhafte Symbolik und poetische Bildsprache fasziniert. Die sich aufgrund der Vielzahl an Themen allerdings inhaltlich etwas übernimmt.
Italien, Frankreich 2023
Regie: Francesca Archibugi
Buch: Francesca Archibugi, Laura Paolucci
Darsteller: Pierfrancesco Favino, Kasia Smutniak, Bérénice Bejo, Benedetta Porcaroli
Länge: 132 Minuten
Verleih: MFA
Kinostart: 16. Mai 2024
FILMKRITIK:
„Der Kolibri“ handelt von einem Mann namens Marco Carrera (Pierfrancesco Favino), einem Augenarzt, der mit seiner Ehefrau Marina (Kasia Smutniak) und Tochter Adele (Benedetta Porcaroli) in Rom lebt. Im Mittelpunkt aber stehen seine Gefühle für eine Frau namens Luisa. Während eines Sommerurlaubs am Meer in den frühen 70er-Jahren verliebte er sich einst in Luisa Lattes (Bérénice Bejo). Die Liebe blieb unerwidert, begleitete Marco aber sein ganzes Leben lang. Unterdessen war sein künftiger Lebensweg gezeichnet von Verlust, Herausforderungen und tragischen Begebenheiten.
Regisseurin und Drehbuchautorin Francesca Archibugi verfilmte mit „Der Kolibri“ den preisgekrönten gleichnamigen Roman von Sandro Veronesi. Im Zentrum dieser epischen Familiengeschichte, die sich über 40 Jahre erstreckt, steht Marco, den Pierfrancesco Favino mit einnehmender Präsenz verkörpert. „Der Kolibri“ (der Titel des Films geht auf Marcos Spitzname seit Kindertagen zurück) ist ganz auf Marco und damit Favino zugeschnitten, er ist in einem Großteil der Szenen zu sehen. Sowohl in den Rückblenden in die 70er-Jahre als auch in der filmischen Gegenwartshandlung.
Diese Verknüpfung der unterschiedlichen Zeitebenen, die nahtlos ineinander übergehen, handhabt Archibugi übrigens sehr geschickt. Die Dominanz von Marco sorgt bisweilen aber dafür, dass die anderen Figuren an den Rand gedrängt werden, obwohl man gerne mehr über sie erfahren und sie besser kennengelernt hätte. So bleiben etwa Marcos Tochter als auch seine Ehefrau Marina hinter ihren (charakterlichen) Möglichkeiten zurück.
Dasselbe gilt für einen Psychologen (gespielt von Nanni Moretti), der eigentlich der Therapeut von Marcos Frau ist, den Marco aber bald häufiger besucht als sie. Sie alle bleiben für den Betrachter schwer fassbar und sind so emotional nicht wirklich greifbar. Dafür überzeugen die gefühlvollen Bilder, die Archibugi allen voran für die Erinnerungen Marcos an die Bekanntschaft mit Luisa findet. Und damit für die gemeinsame Zeit an jenen unvergessenen Sommerurlaub, der Marcos ganzes Leben bis zum heutigen Tag geprägt hat.
„Der Kolibri“ vermag außerdem in Sachen Symbolik und Anspielungsreichtum zu überzeugen. Die symbolhaften Bilder und metaphorischen Entsprechungen, die sich bereits im Filmtitel widerspiegeln und ankündigen, sind passend und werden von Archibugi an sinnhaften Passagen, oft in wichtigen Dialogen, eingefügt. Dazu zählt ebenso das Bild eines verstorbenen Kletterers als Vorbote auf ein kommendes tragisches Ereignis.
Die Themenvielfalt ist beachtlich und eines 350-Seiten-Romans würdig. In einen Film gepackt sorgt allerdings das dafür, dass „Der Kolibri“ leicht überladen wirkt. Weniger wäre mehr gewesen, aber Archibugi wollte (oder konnte) sich nicht dazu durchringen, einige der Kapitel, Ereignisse sowie tragischen Familiengeschehnisse rund um Marco zu streichen. Und so erzählt „Der Kolibri“ am Ende nicht nur von einer unglücklichen Ehe und vom Schatten einer unerfüllten Jugendliebe, der sich über ein ganzes Leben legt, sondern auch noch von Themen wie Suizid, Spielsucht, Familienstreitigkeiten, Lügen und dem komplexen Verhältnis zu den eigenen Eltern. Das ist Stoff für mindestens zwei oder drei Filme.
Björn Schneider