Der Landarzt von Chaussy

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Als Romanfigur, Seriencharakter oder Held in Seifenopern scheint der Landarzt hinlänglich durchleuchtet worden zu sein. Aus einem ganz anderen, erfreulich realistischen Blickwinkel betrachtet nun der gelernte Mediziner und Filmregisseur Thomas Lilti („Hippocrate“) einen viel zu oft romantisch verklärten Beruf. Sein tragikomischer Wohlfühlfilm, in dem aber auch kritische Untertöne Platz haben, lockte in Frankreich bereits über 1,5 Millionen Besucher in die Kinos. In der Hauptrolle brilliert „Ziemlich beste Freunde“-Star François Cluzet. Im Zusammenspiel mit seiner Filmpartnerin Marianne Denicourt schimmert immer wieder die menschliche Tiefe dieses bereits in seiner Heimat Frankreich zum Publikumsliebling avancierten Arthouse-Hits durch.

Webseite: www.alamodefilm.de

OT: Médecin de campagne
F 2015
Regie: Thomas Lilti
Drehbuch: Thomas Lilti, Baya Kasmi
Darsteller: François Cluzet, Marianne Denicourt, Isabelle Sadoyan, Félix Moati, Christophe Odent
Laufzeit: 102 Minuten
Verleih: Alamode
Kinostart: 8.9.2016
 

FILMKRITIK:

Auf dem Land, so heißt es immer, kennt jeder noch jeden. Im Besonderen trifft das auf den Landarzt zu, dem seine Patienten über die Jahre so manches Geheimnis anvertrauen. Hier wird er nicht nur als Mediziner geschätzt und gebraucht sondern auch als Zuhörer, Seelsorger oder ganz einfach Ratgeber in fast allen Lebenslagen. Dr. Jean-Pierre Werner (François Cluzet) erscheint wie der Prototyp des pflichtbewussten Dorfarztes, der seine Arbeit seit über 30 Jahren weniger als Beruf denn als Berufung versteht. Doch dann heißt es, man habe bei ihm einen nicht-operablen Tumor entdeckt. Plötzlich ist nichts mehr so wie vorher. Die Chemotherapie zwingt ihn dazu, eine Vertretung einzustellen. Mit der selbstbewussten, charmanten Dr. Nathalie Delezia (Marianne Denicourt) findet der erkrankte Jean-Pierre sogar schneller als gedacht die zunächst eher widerwillig akzeptierte Unterstützung für seine kleine Praxis.
 
Als Protagonist, verkitschte Sehnsuchtsfigur und vermeintlicher Heilsbringer musste der Landarzt in zahllosen Romanen, Groschenheften und Fernsehserien bereits jedes erdenkliche Medizinerklischee erfüllen. Dabei ist seine Arbeit in der Realität das exakte Gegenteil dieser Soap-Opera-Traumwelt. Das weiß Regisseur Thomas Lilti nur zu gut. So ist Lilti, dessen letzter Film „Hippocrate“ sich ebenfalls mit dem Arztberuf beschäftigte, selbst studierter Mediziner. Seine Erfahrungen aus der Praxis sind neben dem Wissen um die richtige Inszenierung einer leichten, tragikomischen Geschichte das größte Pfund, mit dem „Der Landarzt von Chaussy“ wuchern kann.
 
Nie hat man das Gefühl, der Film könne im nächsten Augenblick in die Falle besagter Arzt- respektive wohl eher Patientenfantasien tappen. Dafür steht er genauso wie seine von „Ziemlich beste Freunde“-Star François Cluzet beinahe demütig verkörperte Hauptfigur viel zu fest auf dem Boden der Realität. Und diese beinhaltet auch bei unseren französischen Nachbarn durchaus schwierige Themen wie das langsame Aussterben des typischen Landarztes, die drohende Unterversorgung ländlicher Regionen sowie die Bürokratisierung des Praxisalltags. Auch der Frage nach einem Abschiednehmen im eigenen Zuhause, den sich die meisten von uns wünschen, weicht Liltis Film keineswegs aus. Aus vielen kleinen Episoden und Land-Impressionen entwickelt hier ein Regisseur nicht zuletzt dank seines Fachwissens einen stets realistischen, mitunter gar dokumentarischen und gleichzeitig einfühlsamen Gegenentwurf zum Genre des leider nicht selten unbefriedigenden Arzt- und Heimatfilms. Er vertraut seinem Ensemble, dem neben Stars wie Cluzet und Denicourt in Nebenrollen auch Laiendarsteller und Schauspielneulinge angehören.
 
In „Der Landarzt von Chaussy“ mögen Krankheiten, Ängste und der Tod immer auf eine bestimmte Art präsent sein. Das zeigt sich gleich zu Beginn, wenn der Zuschauer und der überraschte Jean-Pierre mit der weitreichenden Diagnose konfrontiert werden. Aber trotz dieser vermeintlich schweren Thematik verbreitet die Inszenierung vielmehr Hoffnung, Freude und sehr viel Lebenslust. Man kann diese ehrliche Landpartie vielleicht als französische Antwort auf Hollywood und seine Feel-Good-Movies umschreiben. Schließlich definieren und etablieren auch bei Litli bodenständige, grundsympathische Charaktere das emotionale Gerüst. Vor allem im Zusammenspiel des großartigen weil derart uneitlen Cluzet und seiner Filmpartnerin Marianne Denicourt schimmert immer wieder die menschliche Tiefe dieses bereits in seiner Heimat Frankreich zum Publikumsliebling avancierten Arthouse-Hits durch.
 
Marcus Wessel