Der marktgerechte Patient

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Aktuell beklagen fast alle Parteien den Pflegenotstand. Dabei bleibt meist unerwähnt, dass die Schieflage hausgemacht ist. Die Ursache liegt in den 2003 eingeführten Fallpauschalen, die für sämtliche Diagnosen eine fixe Entlohnung festlegen und die Kommerzialisierung privater wie öffentlicher Klinikbetriebe befördern, was kaum zur ärztlichen Fürsorgepflicht passt. In ihrer empörten Dokumentation „Der marktgerechte Patient“ zeigen Leslie Franke und Herdolor Lorenz („What Makes Money“) die prekären Zustände auf. Der programmatische Zusatztitel trifft den Tenor der Bestandsaufnahme: „In der Krankenhausfabrik“.

Webseite: www.der-marktgerechte-patient.org

Deutschland 2018
Regie: Leslie Franke, Herdolor Lorenz
Laufzeit: 82 Min.
Verleih: Edition Salzgeber
Kinostart: 8. November 2018

FILMKRITIK:

Die Szene könnte von Franz Kafka stammen: Ein Mann wird mit Schmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Stundenlang liegt er ohne ärztlichen Beistand im Zimmer. Auf Nachfrage der Ehefrau erklärt ein Arzt im Vorbeigehen, dass er um 16 Uhr nach dem Patienten schaut. Um Viertel nach vier erfährt die Frau, dass der Arzt nicht mehr im Haus ist. Stattdessen legt eine Vertretungsärztin dem Mann eine Antibiotika-Infusion und übersieht seine blau angelaufenen Lippen und Fingernägel. Später am Abend geht alles ganz schnell. Zwei Ärzte verlegen den Kranken auf die Intensivstation. Die Ehefrau und der zwischenzeitig eingetroffene Sohn erfahren von seinen geringen Überlebenschancen. Am Folgetag ist der Mann tot. Eine Diagnose haben die Angehörigen im gesamten Zeitraum nicht erhalten.
 
Mit der heilen Welt aus Arztserien hatte der reale Krankenhausalltag noch nie viel zu tun. Folgt man den von Leslie Franke und Herdolor Lorenz zusammengetragenen Entwicklungen und Fallbeispielen aus der aktuellen Krankenhauspraxis, ergibt sich jedoch ein Bild, dass alarmierender ist als angenommen. „Wir alle leiden mit kranken Kindern,“ meint etwa eine Ärztin aus der Kinder-Intensivstation München. „Aber wir können mit kranken Kindern kein Geld verdienen.“ Mit solchen und ähnlichen Aussagen legen Franke und Lorenz den Finger in die Wunde.
 
Die Ursache für den Behandlungsnotstand liegt vor allem im Personalmangel, der wiederum eine direkte Folge der Fallpauschalen ist. Um die immer häufiger privat geführten Kliniken rentabler zu machen, strichen Beraterfirmen über die Jahre etliche Pflegestellen. Das wiederum führt zu unbelegten Betten, weil für die Versorgung Personal fehlt. Zudem legt die sogenannte Richtverweildauer fest, wie lange Kranke im Klinikbett liegen dürfen, bevor ihr Aufenthalt unrentabel wird. Parallel dazu schafft es die im Film kritisch dargestellte Hamburger Asklepios-Klinik als Anlagetipp in die „Wirtschaftswoche“ – mit 12% Rendite.
 
Das Ziel ist es, immer mehr Fälle in immer kürzerer Zeit abzuwickeln und vermehrt Behandlungen durchzuführen, die hohe Fallpauschalen versprechen. Operationen werden gut entlohnt, während die mit 30 Euro dotierte Notfallaufnahme für die Kliniken von vornherein ein Verlustgeschäft darstellt. Am anderen Ende der Fahnenstange werden Schwerverletze zu mehreren Kliniken transportiert, bis sie irgendwo aufgenommen werden.
 
Die Filmemacher bezeichnen ihre per Crowdfunding realisierte Doku als „Film von unten“. Fernab wirtschaftlicher Interessen blicken sie auf beklagenswerte Zustände und sprechen mit Mediziner/innen, Patient/innen sowie Pflegekräften, die mit Streiks auf ihre Lage aufmerksam machen. Da der Beitrag als Appell an die Politik zu verstehen ist, bemüht sich der Münchner Oberbürgermeister in Statements um Schadensbegrenzung.
 
Die nüchtern-sachliche Form ist ganz auf das Thema fokussiert. Franke und Lorenz nutzen klassische Interviewsituationen und altbackene Schautafeln mit Erklärerstimme, die die Hintergründe der Gewinnmaximierung in Kliniken aufzeigen. So liefert die Doku viele Fakten und Argumente für eine anknüpfende Diskussion. Die scheint angebracht, denn dass die auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Klinikversorgung nicht dem Allgemeinwohl dient, liegt auf der Hand. Letztlich betrifft die Kommerzialisierung der Medizin alle Bürger/innen, auch wenn die Mehrheit das Thema so lang beiseite schiebt, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist.
 
Christian Horn