Der Russe ist einer, der Birken liebt

Womöglich will derzeit niemand wissen, welche Bäume „der Russe“ liebt. Aber als Olga Grjasnowa 2012 ihren Debütroman vorlegte, war das deutsche Feuilleton begeistert von der unverbrauchten Stimme einer neuen Generation. Die Latte lag also hoch für die Verfilmung des unkonventionellen Lebens einer Kosmopolitin, die das Wort „Migrationshintergrund“ nicht mehr hören kann. Regisseurin Pola Schirin Beck trifft den Ton, indem sie sich weniger auf den Plot als auf eine Collage von Stimmungen konzentriert. Und auf das Porträt einer ebenso mutigen wie selbstironischen jungen Frau, das beim Filmfest München Premiere feierte.

Deutschland, Israel 2021
Regie: Pola Schirin Beck
Drehbuch: Burkhardt Wunderlich, Pola Schirin Beck
Darsteller: Aylin Tezel, Sohel Altan Gol, Slavko Popadic, Yuval Scharf, Bardo Böhlefeld

Länge: 105 Minuten
Verleih: Port au Prince
Kinostart: 3. November 2022

FILMKRITIK:

Ein Morgen, draußen ist es schon hell: In ihrem Bett windet sich eine Frau vor Lust. Die Kamera zeigt sie in halbnaher Einstellung, irgendwann schiebt sich auch ein Mann ins Bild. Er taucht wieder ab, das Liebesspiel geht weiter. Doch nun beugt sich ein anderer Mann über die Frau. Sie betrachtet ihn staunend, küsst ihn zärtlich, während der Radiowecker angeht und die Kamera mit der Hand der Frau zum Aus-Knopf schwenkt. Schnitt und Rückfahrt erlauben einen Blick auf das ganze Bett. Zwei Frauen liegen nebeneinander, eine schläft noch. Was ist das? Ein Traum kurz vor dem Erwachen? Ein kurzer Einblick in ein Beziehungsviereck? Oder ein geniales Blitzporträt des unkonventionellen Lebensstils einer 29-Jährigen, die alle Grenzen sprengt: geografische, geschlechtliche, sprachliche?

Wie auch immer die Eingangssequenz gemeint ist – es macht wenig Sinn, dem Charakter- und Generationenporträt einer multiethnischen, von der Globalisierung geprägten Kultur junger Menschen mit einer Kurzfassung der Handlung nahekommen zu wollen. Viel eher wird es Pola Schirin Becks zweitem Kinofilm gerecht, wenn man von Mascha (Aylin Tezel) erzählt, der Frau aus der Eingangsszene. Die angehende Dolmetscherin stammt ursprünglich aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, will aber von Herkunft, Identitätsfragen oder überhaupt von Details zu ihrer Familiengeschichte nichts wissen.

Sie will einfach nur leben in einer Welt der unendlichen Möglichkeiten, will das globale Dorf auf so natürliche Weise für sich beanspruchen wie „normale“ Deutsche oder überhaupt jeder Erdenmensch, ohne irgendein Etikett. Mascha möchte mit Männern und Frauen schlafen, am liebsten für die UN arbeiten und sich nie in Kompromisse oder Lügen flüchten müssen. Sie kommt mit Juden genauso klar wie mit Arabern, hält wenig von Pünktlichkeit und verbindlichen Regeln, dafür aber viel von der Weisheit ihrer Oma. Die sagte, man müsse immer einen frischen Schlüpfer dabei haben – falls etwas Unvorhergesehenes passiert.

In der unchronologischen Inszenierung des gleichnamigen Romans von Olga Grjasnowa lernen wir Mascha als Liebende kennen: als Freundin des Deutschen Elias (Slavko Popadic), der nach zwei Jahren immer noch nicht weiß, mit wem er eigentlich zusammenlebt. Und als Geliebte der Jüdin Tal (Yuval Scharf), die vermutet, ihre neue Bettgenossin sei irgendwie auf der Flucht – vor etwas, das sie sich selbst nicht eingesteht. Wie das alles zusammenhängt, der stetige Wechsel zwischen Tel Aviv und Frankfurt, entschlüsselt sich dem Publikum, das den Roman nicht kennt, erst spät. Nur eines wird relativ bald klar: Neben all der Neugier und Weigerung, sich festzulegen, spielen Verlust und Trauer eine wichtige Rolle in Maschas Leben.

Regisseurin Pola Schirin Beck berichtet von einem vertrauensvollen Kontakt zu Olga Grjasnowa, der Autorin der Romanvorlage. Diese habe nichts dagegen gehabt, dass Drehbuchautor Burkhardt Wunderlich Handlungsteile oder Figuren wegließ und Hintergründe nur andeutete. Die Regisseurin nutzt diese Freiheit mit großer Verve, quasi als Verbeugung vor dem Unabhängigkeitsdurst ihrer Heldin. Die Inszenierung verlässt sich ganz auf Bilder, auf die Beredsamkeit von inneren Spannungen und auf das Gesicht von Aylin Tezel, mit der Pola Schirin Beck schon bei ihrem Debüt „Am Himmel der Tag“ (2012) zusammenarbeitete. Ihr Mienenspiel erzählt, was das Drehbuch weglassen muss: die Zerbrechlichkeit der Figur, die sich nach außen kompromisslos gibt; ihre Sehnsucht nach einem sicheren Hafen, die so gar nicht zur Weltgewandtheit einer fünf Sprachen beherrschenden Dolmetscherin passt; und die Suche nach Identität, die mit der Reise nach Israel mehr angedeutet als auserzählt wird.

Wo relativ wenig gesprochen wird, müssen die Bilder umso mehr ausdrücken. Wie in „Am Himmel der Tag“ tastet sich Kameramann Juan Sarmiento durch eine Gefühlswelt, die weniger von objektiven Fakten als von oszillierenden, sich teilweise widersprechenden oder überlagernden Emotionsschichten dominiert ist. Die ruhigen Bewegungen der Kamera täuschen über das nervöse Brodeln im Innern der Figuren nie hinweg. Sie geben dem Ungesagten einen Raum, der sich in Lichtstimmungen, engen oder weiten Kompositionen, Hell und Dunkel entfaltet. Laut den technischen Angaben wird in dem Film Deutsch, Englisch, Arabisch, Türkisch, Französisch und Russisch gesprochen (sämtlich untertitelt bis auf das Deutsche). Aber alle verfehlen das, was die Sprache der Kamera erzählt.

 

Peter Gutting