Der Schein trügt

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Eine wilde Satire mit anarchischem und teils ziemlich rabiatem Humor, die in zahllosen unerwarteten Wendungen von Gewinnern und Verlierern im neokapitalistischen, postsozialistischen Europa erzählt – als skurriler Beitrag zur Zeitgeschichte oder, je nach Betrachtungsweise, auch als episodenhafte Mischung aus Fantasy, Science Fiction und Farce. Letztlich ist der Film schwer einzuordnen, im Großen und Ganzen ist er eine durchaus anspruchsvolle und nicht immer leicht durchschaubare Aufarbeitung von mehr als 30 Jahren Balkan-Historie.

Website: https://www.neuevisionen.de/de/filme/der-schein-trugt-111

Nebesa
Serbien, Mazedonien, Deutschland, Kroatien, Slowenien 2021
Regie und Drehbuch: Srdjan Dragojevic
Darsteller: Goran Navojec, Ksenija Marinkovic, Bojan Navojec, Milos Samolov,
Länge: 122 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 16.12.2021

FILMKRITIK:

Stojan lebt in den 90er Jahren mit Frau und Kind in einem halb zerstörten Dorf. Sie sind Bürgerkriegsflüchtlinge und haben alles verloren. Stojan ist vielleicht nicht das hellste Licht unter der Sonne, aber er ist ein liebevoller Vater und bastelt mit seiner Tochter an einem Modell ihres ehemaligen Hauses. Eines Tages geschieht ein Wunder: Über Stojans Kopf steht plötzlich ein Heiligenschein. Sowohl Stojan als auch seine sehr, sehr energische Frau Nada möchten dieses unveränderliche neue Kennzeichen, das sich nur durch eine Mütze verdecken lässt, wieder loswerden. Aber was tun? Nada hat eine Idee: Der brave Stojan muss zum Sünder werden, damit Gott ihm den Heiligenschein wieder nimmt. Doch so einfach ist das nicht, obwohl Stojan mit wachsendem Vergnügen kleinere und größere Untaten begeht, bis er schließlich mit Unterstützung seiner Frau zum Ehebrecher und im weiteren Verlauf zum Mörder wird. Die nächste Episode spielt 2001 – Stojan (immer noch mit Heiligenschein) ist mittlerweile zum Gefängnisdirektor aufgestiegen, der das Todesurteil an einem seiner Häftlinge vollstrecken lassen soll. Bei dem Unglücklichen handelt es sich um den Künstler Gojko, der angesichts seines baldigen Todes eine unerwartete Verwandlung erfährt. 25 Jahre später lebt Gojko immer noch – er ist ein Künstler, und seine Bilder verfügen über ganz besondere Eigenschaften, die sogar die Aufmerksamkeit staatlicher Organe erwecken.

Der vielversprechende Anfang mit dem ebenso unerwarteten wie skurrilen Heiligenschein, den sein Träger um jeden Preis wieder loswerden will, ist etwas irreführend, denn er stellt lediglich die erste und längste von drei Episoden dar, dominiert also die Handlung und ist in sich auch am ehesten geschlossen. In allen Episoden tauchen dieselben Schauspieler auf, die auch – zumindest soweit erkennbar – dieselben Rollen spielen oder besser gesagt: weiterspielen. Anhand von eingeblendeten Jahreszahlen lässt sich erkennen, wie viel Zeit zwischen den Episoden vergangen ist. Da praktisch nichts erklärt wird, was prinzipiell eine gute Idee ist, und einiges auch über die Dialoge unklar bleibt, hat das Publikum die wichtige Aufgabe, sich im Film selbständig zu orientieren. Das klappt ganz gut, vor allem in der ersten Episode. Die anspielungsreichen Bilder wirken in ihrer überbordenden Symbolik oftmals nicht nur verblüffend, sondern auch rätselhaft und laden zur Interpretation ein.

Der Humor reicht von der Brachialkomik der Heiligenschein-Episode über die bissige Satire im Gefängnis-Teil bis zum bitteren Sarkasmus im dritten Part. Dabei geht es ganz offenkundig immer um die Zustände im ehemaligen Jugoslawien. Die Kritik an 30 Jahren Balkanpolitik wird deutlich sichtbar, auch wenn vieles wie in einem großen Bilderrätsel versteckt ist und darauf wartet, von aufmerksamen Kinofans entdeckt zu werden. Doch auch alle, die über weniger Informationen verfügen, können sich in Srdjan Dragojevics ideenreicher Parabel an dem wilden Mix aus vielen einzelnen Komponenten erfreuen, die in einer cineastisch durchaus anspruchsvollen Mischung aus Blasphemie und Gottesglaube, Sozialkritik und Balkanromantik, Zärtlichkeit und Brutalität, Sinn und Unsinn aufeinandertreffen.

Gaby Sikorski