Der verlorene Zug

Zum Vergrößern klicken

Drei Frauen – drei Schicksale am Ende des 2. Weltkriegs: Im April/Mai 1945 wird ein kleines Dörfchen im Süden Brandenburgs zum Schauplatz von tragischen Ereignissen, als ein Zug mit mehr als 2000 Gefangenen aus dem KZ Bergen-Belsen hier stehen bleibt. Inspiriert von wahren Begebenheiten erzählt das ambitionierte Drama aus dem Blickwinkel einer deportierten niederländischen Jüdin, einer sowjetischen Scharfschützin und eines deutschen BDM-Mädchens die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft.

Webseite: https://www.wfilm.de/der-verlorene-zug

Lost Transport
Niederlande, Luxemburg, Deutschland 2021
Drehbuch und Regie: Saskia Diesing
Darsteller: Hanna van Vliet, Eugénie Anselin, Anna Bachmann, Bram Suijker, Konstantin Frolov Kamera: Aage Hollander
Musik: Paul Eisenach, Jonas Hofer

Länge: 101 Minuten
Verleih: W-film
Kinostart: 27.04.2023

FILMKRITIK:

Im April 1945 verlassen drei Züge das KZ Bergen-Belsen, kurz bevor die britische Armee das Lager befreit. In jedem der Züge befinden sich mehr als 2000 Menschen, im Nazi-Jargon „Austauschjuden“ genannt, weil sie als Geiseln im Tausch gegen Kriegsgefangene und Devisen dienen sollen. Ihr Ziel ist das KZ Theresienstadt. Lediglich einer der Züge erreicht sein Ziel. Der erste Transport wird nach etwa einer Woche von amerikanischen Truppen befreit. Der letzte Zug irrt fast zwei Wochen durch Mitteldeutschland, bis er schließlich auf freiem Feld vor einer gesprengten Brücke liegen bleibt. Die SS-Wachen flüchten und überlassen die geschwächten, von Hunger, Krankheiten und Luftangriffen gequälten KZ-Insassen ihrem Schicksal. Ein Trupp sowjetischer Soldaten entdeckt den Transport und leistet Hilfe, ebenso ein Teil der Bevölkerung des nahen Dörfchens Tröbitz. Doch im Zug ist der Typhus ausgebrochen …

So viel zu den Fakten. Der Film erzählt hauptsächlich von den Ereignissen in Tröbitz, nachdem der Zug gestrandet ist. Im Mittelpunkt stehen drei Frauen: Simone, eine niederländische Jüdin, die mit ihrem Mann Isaac mit knapper Not den Transport überlebt hat. Vera, eine sowjetische Scharfschützin der Roten Armee, und Winnie, ein Mädchen aus dem Dorf, das die BDM-Uniform nicht ablegen will. Die Drei begegnen sich in einer denkbar schwierigen Situation: Das gegenseitige Misstrauen ist ebenso groß wie die gegenseitige Abneigung. Zwischen Hass und Rachegefühlen verlaufen die ersten Kontakte, und sehr langsam erwächst im Verhältnis zwischen Simone, Vera und Winnie so etwas wie Mitgefühl und Verständnis, während um sie herum die Welt aus den Fugen gerät. Eingebettet in eine spannende Handlung erzählt die deutsch-niederländische Filmemacherin Saskia Diesing eine Geschichte, die von der Tatkraft und Energie dreier Frauen handelt und davon, wie sie versuchen, für andere da zu sein und einfach weiterzumachen, wo andere verzweifeln. Vera, die Rotarmistin, ergreifend gespielt von Eugénie Anselin, muss sich tagtäglich nicht nur im Kampf beweisen, sondern sie muss sich auch gegen das Männerregime in ihrer Einheit behaupten, zu dem neben dem Hass auf die Deutschen auch dreckige Sprüche gegenüber Frauen gehören. Simone ist zu Beginn so etwas wie die Sprecherin der Zuginsassen, doch die ersehnte Freiheit rückt für sie immer weiter in die Ferne, weil ihr Mann Isaac an Typhus erkrankt und das ganze Dorf unter Quarantäne gestellt wird. Hanna van Vliet spielt die Simone mit sanfter, feiner Freundlichkeit und unverrückbarem Optimismus. Als Winnie ist Anna Bachmann eine zunächst unbelehrbare Nazi-Göre, die nur langsam ihre Vorurteile ablegt. Saskia Diesing arbeitet mit einem recht kleinen Cast, viele Aufnahmen spielen in halbdunklen Innenräumen und spiegeln so die düstere Atmosphäre zum Kriegsende wider. Der Film wirkt insgesamt recht ruhig, es wird selten laut und emotional. Zum gemessenen Tempo und den tragischen Umständen passt die getragene Musik von Paul Eisenach und Jonas Hofer. Die aufmerksame Kamera von Aage Hollander fängt häufig die Blicke der Akteurinnen auf, in denen sich widerstreitende Gefühle spiegeln. Mehr und mehr entwickelt sich der Film dabei vom Kriegsdrama aus weiblicher Sicht zu einer allgemein gültigen Parabel über Menschlichkeit und Zusammenhalt in schweren Zeiten.

 

Gaby Sikorski