Der wilde Wald – Natur Natur sein lassen

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Die Regisseurin und Produzentin Lisa Eder ist im Naturfilmbereich kein unbeschriebenes Blatt. Immerhin führte sie bereits bei „Die Alpen von oben“ Regie und hat unter anderem in Bayern, Kenia, auf den kanarischen Inseln und in verschiedenen Nationalparks gefilmt. Ihr neuer Dokumentarfilm „Der wilde Wald“ erzählt vom Nationalpark Bayerischer Wald, dem ersten international anerkannten Nationalpark Deutschlands. Den Fokus legt Eder auf die Beziehung der Menschen zur Natur im Allgemeinen und jene zum Naturschutzgebiet Bayerischer Wald im Speziellen. Seine Deutschland-Premiere feierte der ausgewogen-informative und zugleich atmosphärische Film beim DOK.fest München.

Website: www.mindjazz-pictures.de/filme/der-wilde-wald

Deutschland 2021
Regie: Lisa Eder
Drehbuch: Lisa Eder
Mitwirkende: Diana Six, Dr. Christina Pinsdorf, Dr. Franz Leibl, Prof. Dr. Jörg Müller, Peter Langhammer
Laufzeit: 89 Min.
Verleih: mindjazz pictures
Kinostart: 7.10.2021

FILMKRITIK:

Als der Bayerische Wald 1970 zum ersten international anerkannten deutschen Nationalpark gekürt wurde, war das Konzept, den Wald in keiner Weise zu bewirtschaften und sich selbst zu überlassen, ganz neu und nicht unumstritten. Zusammen mit dem benachbarten tschechischen Nationalpark Šumava ist der Bayerische Wald heute das größte Waldschutzgebiet in ganz Mitteleuropa. Das urwüchsige Areal dient unzähligen Tier- und Pflanzenarten als „Arche Noah“, zugleich nutzen Menschen das Gebiet als Erholungsgebiet. Lisa Eders Dokumentarfilm „Der wilde Wald“ porträtiert den Wald aus verschiedenen Perspektiven heraus, wobei ihr Fokus nur nebenher auf der Funktionsweise des Ökosystems Wald und der Lebensweise der Wildtiere liegt, sondern auf der spannungsreichen Beziehung des Menschen zur Natur. Auf formaler Ebene sind dafür die regelmäßig erzeugten Kontraste zwischen der Natur auf der einen und Autobahnen oder der Landwirtschaft auf der anderen Seite symptomatisch.

Der Respekt vor der Natur ist Eders Film jederzeit anzumerken, ebenso die Faszination für die natürlichen Kreisläufe, das Werden und Vergehen. Dass die Filmemacherin dennoch verschiedene Argumente zulässt und die Einschätzung des Für und Wider letztendlich dem Publikum überantwortet, ist eine souveräne Stärke ihres zwar engagierten, doch jederzeit sachlichen Beitrags. Eder liefert trotz mancher Schubser in Richtung Naturschutz keine vorgefertigte Meinung, sondern trägt zur nüchternen Meinungsbildung bei und regt zur Reflektion der menschlichen Stellung in der Natur ein.

Ein Beispiel hierfür ist der Umgang mit dem Borkenkäfer, dessen erstes Auftauchen das Projekt Bayerischer Wald auf den Prüfstein stellte. Archivaufnahmen aus den 1970er-Jahren zeigen Demonstrationen für und gegen eine Bewirtschaftung des Bayerischen Walds, die durch apokalyptische Bilder zerstörter Wälder emotional stark aufgeladen waren. Die einen sahen im Wildwuchs einen Katalysator für die Ausbreitung der Borkenkäfer, die hektarweise kahle Stämme hinterlassen – ein damaliger Nachrichtensprecher mahnt die „grüne Ignoranz“ an und mutmaßt, der fehlende Eingriff des Menschen habe die Käfer regelrecht „gezüchtet“. Naturschützerinnen wiesen hingegen darauf hin, dass zu einem gesunden Wald auch Totholz gehört und die Evolution es ganz ohne äußeres Zutun schafft, neue Baumgenerationen besser an die wachsende Population der Borkenkäfer anzupassen.

Die abwechslungsreiche Flora und Fauna des Bayerischen Walds zeigt Eder in ruhigen, stilvollen Aufnahmen, die mal Draufsichten per Drohnenflug ins Bild setzen, mal in Nahaufnahmen schwelgen. Wir sehen Otter, Spechte oder Eulen, Wölfe und in besonders schönen Aufnahmen die von Tschechien aus wiederangesiedelten Luchse. Der dezente Score untermalt die Bilder nur punktuell, stattdessen weiß Eder um die Kraft reiner Naturgeräusche. Ein wildes Schneetreiben, das Plätschern eines Bachlaufs oder die vielfältige Geräuschkulisse der zahlreichen Tierarten reichen als Soundkulisse mehr als aus. Dazwischen liefern kurze Texteinblendungen oder Interviews mit passionierten Wanderern oder Naturschützerinnen Fakten und verschiedene Perspektiven. Mit viel Fingerspitzengefühl bei der Montage und Materialauswahl gelingt eine sehr gut austarierte Mischung aus Informationen und Impressionen. Sehenswert!

Christian Horn


Gerade in Corona-Zeiten erfuhr das Wandern in möglichst unberührter Natur steigende Beliebtheit. Auch im Bayerischen Wald dürfte dies zu spüren gewesen sein, zumal dieser Wald besonders unberührt ist. Seine Geschichte und Besonderheiten beschreibt Lisa Eder in ihrem Dokumentarfilm „Der Wilde Wald – Natur Natur sein lassen“, ein eindringliches Plädoyer für weniger menschliche Eingriffe in die Natur.

Unberührte Natur. Was ist das eigentlich? Gerade im dicht besiedelten Deutschland gibt es kaum einen Flecken, der nicht mehr oder weniger unter dem Einfluss des Menschen steht, was selbst für die meisten Wälder gilt, die oft nur scheinbar unberührt sind. Doch das ändert sich. Zunehmend realisieren Forscher, dass es einem Wald gut tut, wenn durch Stürme gefällte Bäume nicht hübsch ordentlich weggeräumt, sondern einfach liegengelassen und dem natürlichen Prozess der Verrottung überlassen werden.

Besonders im Nationalpark Bayerischer Wald wird dieses Prinzip schon seit längerem verfolgt. 1970 gegründet, war der Nationalpark anfangs ein Experiment und in der benachbarten Bevölkerung alles andere als unumstritten. Inzwischen ist der Nationalpark Bayerischer Wald zusammen mit einem Gebiet in der benachbarten Tschechischen Republik die größte zusammenhängende Waldschutzfläche Mitteleuropas.

Hier leben Luchse und Wölfe, aber auch unzählige Käfer. Gerade diese Borkenkäfer wurden in den 80er Jahren, als Schlagzeilen vom Waldsterben durch die Presse gingen, ausschließlich als Schädlinge betrachtet. Diana Six, eine der Protagonistinnen von Lisa Eders Dokumentarfilm weiß es besser: Die amerikanische Entomologin forscht über Insekten und weiß, dass Käfer ein essentieller Teil der natürlichen Kreisläufe sind. Auch wenn es für Spaziergänger und Wanderer oft wenig ästhetisch wirkt: Aber umgestürzte Bäume, die langsam vor sich hin rotten sind natürlicher als gepflegte Wälder, die eher einem romantischen Bild der Natur entsprechen.

Über dieses Thema denkt Christina Pinsdorf beruflich nach. Die Philosophin beschäftigt sich mit Tierethik und Naturphilosophie und wünscht sich mehr Wildnis in einer zunehmend kontrollierten, organisierten Welt, in der jede Unebenheit wegrationalisiert scheint. Ihrer Ethik folgt der Krankenpfleger und Fotograf Bastian Kalous, der jede freie Minute im Bayerischen Wald verbringt, die „Berge“ erklimmt, die mit ihren 1300-1400 Meter Gipfeln eher kleinere Erhebungen sind, aber dennoch weite Blicke auf die, ja, unberührte Natur ermöglichen.

Diese und andere Menschen treten in „Der Wilde Wald“ auf, sind jedoch nicht die Hauptfiguren. Vielmehr kontextualisieren sie die Bilder der Natur, Aufnahmen von Blättern und Farnen, Bäumen und Borkenkäfern, auch von Luchsen und Wölfen, die im Zentrum des Films stehen. Gerade das Thema Wolf ist dabei hochumstritten, bemühte der Mensch sich doch Jahrzehnte lang, den jagenden Konkurrenten zu vertreiben. Inzwischen hat sich der Wind gedreht, der Natur- und Tierschutz spricht auch dem Wolf ein Lebensrecht zu, auch wenn dies das Ende für manches Schaf bedeutet. In Einklang oder gar Harmonie mit der Natur zu leben ist eben ein schwieriger Prozess, den die Menschheit im Laufe der letzten Jahrhunderte oft verlernt hat. Ob es gelingt, dieses Wissen zurückzugewinnen, davon dürfte angesichts des Klimawandels einiges abhängen, Lisa Eders Film zeigt, warum dies so wichtig wäre.

Michael Meyns