Die andere Seite von allem

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Eine sehr persönliche Geschichte erzählt Mila Turajlić in ihrem essayistischen Dokumentarfilm „Die andere Seite von allem“, die dennoch viel über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer serbischen Heimat erzählt. Um Widerstand und Rebellion und vor allem die Hoffnung auf ein demokratisches Serbien geht es hier, die Geschichte einer Nation, die wie kaum eine andere die Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt.

Webseite: jip-film.de/die-andere-seite/

Dokumentation
Druga stana svega
Serbien/Frankreich/Katar 2017
Regie & Buch: Mila Turajlić 
Länge: 100 Minuten
Verleih: JIP Film & Verleih
Kinostart: 15. November 2018

FILMKRITIK:

In gewisser Weise ist eine Wohnung die Hauptfigur in „Die andere Seite von allem.“ Im Herzen von Belgrad, der ehemals jugoslawischen und jetzt serbischen Hauptstadt liegt die herrschaftliche Wohnung, in der Mila Turajlić fast den gesamten Film gedreht hat. Hier lebt ihre Mutter Srbijanka, hier lebten seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Urgroßeltern, die bei der Ausrufung der Republik 1918 dabei waren.
 
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Machtergreifung durch den Kommunisten Tito wurden Teile der Wohnung jedoch nationalisiert, so viel Platz galt als dekadent, die bourgeoisen Turajlićs wurden enteignet, die Wohnung geteilt, eine Arbeiterfamilie wohnte seitdem in einem Teil der Wohnung. Unter diesen Umständen wuchs Srbijanka Turajlić auf, die eigentlich Anwältin werden wollte, doch dafür hätte sie in die kommunistische Partei eintreten müssen. Stattdessen wurde sie Ingenieurin und lehrte Anfang der 90er Jahre an der Belgrader Universität, dem Epizentrum der Protestbewegungen gegen Slobodan Milosevic. Dieser trug nach der Zerschlagung Jugoslawiens mit seiner radikalen Politik erheblich zum Wiedererstarken des Nationalismus auf dem Balkan bei und damit zu all den Kriegen und Gräueltaten, deren Folgen auch heute noch zu spüren sind.
 
In dieser Atmosphäre wuchs Mila Turajlić auf, die - so wie ihre Mutter - politisch aktiv war, inzwischen aber Filme dreht. In ihrem Debüt „Cinema Komunisto“ ging es um die Konstruktion einer nationalen Identität durch das Kino, in „Die andere Seite von Allem“ ist der Bogen größer. Ein Porträt ihrer Mutter ist der Film unter anderem, einer auch heute noch resoluten Frau, die sich zwar nicht mehr aktiv engagiert, deren moralische Haltung aber noch ungebrochen stark ist. Das Schicksal ihres Landes liegt ihr deutlich am Herzen, ein Land, dass zwar die Ära Milosevic hinter sich gebracht hat, das Gefühl, ungerechtfertigterweise für fast alle Verbrechen und Missstände auf dem Balkan verantwortlich gemacht zu werden, aber noch lange nicht überwunden hat. Die Demokratie ist fragil in Serbien, doch im Gegensatz zur Generation der Mutter, ist die Generation der Tochter längst nicht mehr so engagiert.
 
Fast enerviert wirkt Srbijanka oft, wenn sie mit ihrer Tochter diskutiert, die im Gegensatz zu ihr nicht mehr so recht daran glauben mag, das politisches Engagement den Lauf der Geschichte beeinflussen kann.
 
Mit viel Dokumentarfilmmaterial hat Mila Turajlić diese Generationengeschichte, diesen Generationenkonflikt angereichert, in dem sie auf eindrucksvolle Weise die wechselvolle Geschichte Serbiens nachzeichnet.
 
Michael Meyns