Die Augen des Engels

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Die Ermordung einer britischen Studentin ging im Jahr 2007 als Schlagzeile von Italien aus um die Welt. Auch nach mehreren Prozessen scheint das brutale Verbrechen bis heute keinesfalls aufgeklärt. Den Folgen und Auswirkungen der Tat auf Beobachter, Medien und Angehörige widmet sich der Brite Michael Winterbottom („The Road to Guantanamo, „In this World“) in seinem neuen Film. Daniel Brühl verkörpert darin einen in der Schaffenskrise befindlichen Regisseur, der die Ereignisse als Filmstoff aufbereiten will. „Die Augen des Engels“ wurde durch diesen erzählerischen Ansatz kein generischer Crime-Thriller, sondern eine vielschichtige Reflexion über Medien, Manipulation und den Anspruch der Kunst. Und die toskanische Stadt Siena mit ihrer märchenhaften Altstadt, den kleinen, engen Gassen, bildet die perfekte Kulisse.

Webseite: www.augendesengels-film.de

OT: The Face of an Angel
GB/I/ESP 2014
Regie: Michael Winterbottom
Drehbuch: Paul Viragh
Darsteller: Daniel Brühl, Kate Becksinsale, Cara Delevingne, Valerio Mastandrea
Laufzeit: 101 Minuten
Verleih: Concorde
Kinostart: 21.5.2015
 

Pressestimmen/Auszeichnungen:

"Durch das Verweben der realen Sensationsstory mit der eigenen Sicht auf die Krisen eines Künstlers gelingt Michael Winterbottom ein überraschend vielschichtiger Film. - Prädikat besonders wertvoll".
FBW

FILMKRITIK:

Im November 2007 erschütterte der bis heute ungeklärte Mord an der britischen Studentin Meredith Kercher die Welt. Obwohl die Justiz zunächst Merediths Kommilitonin, die amerikanische Studentin Amanda Knox, und deren Freund für die Tat verurteilte, fehlte es bis zuletzt an einem schlüssigen Motiv. Es folgten die Berufung und ein Freispruch aus Mangel an Beweisen, später dann die Wiederaufnahme des Verfahrens und die erneute Verurteilung in Abwesenheit der Angeklagten, die inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt war. Von Beginn an löste der Fall ein gewaltiges Medieninteresse aus. Neben seriöser Berichterstattung zog der Prozess auch die Boulevardpresse und Sensationstouristen an. Und er beschäftigte Filmemacher wie den Briten Michael Winterbottom, der in Filmen wie „The Road to Guantanamo“ und „In this World“ immer wieder hochaktuelle Themen und wahre Begebenheiten behandelte.
 
Doch Winterbottom wollte keinen gewöhnlichen Thriller über die Ereignisse rund um die Tat und den anschließenden Prozess drehen. Schon weil vieles darin bloße Spekulation gewesen wäre, er sich vielmehr für die Geschichten hinter der eigentliche Geschichte interessierte, wählte er einen anderen Ansatz. Basierend auf der Prozess- und Medienanalyse „Angel Face“ der in Rom lebenden Journalistin Barbie Latza Nadeau, eines der ersten Bücher über den Fall, entschied sich Winterbottom, die Folgen der Tat und die Rolle der beteiligten Medien näher zu beleuchten. In seinem Film spiegeln und vermischen sich als Folge dessen gleich mehrere Ebenen. Während der eigentliche Fall in „Die Augen des Engels“ stets etwas in den Hintergrund gerückt wirkt, erzählt der Brite von einem in der Sinnkrise befindlichen Regisseur (Daniel Brühl), der glaubt, in dem Verbrechen seinen nächsten Filmstoff gefunden zu haben. Er reist nach Italien, wo er die US-Journalistin Simone (Kate Beckinsale) trifft, die analog zu Nadeau ein Buch über den Prozess und den ihn umgebenden Medienzirkus geschrieben hat.
 
Durch diesen erzählerischen Trick sind weder die Journalisten noch die anderen Prozessbeteiligten die eigentlichen Hauptdarsteller in Winterbottoms Film. Die Hauptfigur ist Thomas, der Regisseur, den Winterbottom jedoch nicht als sein Alter Ego verstanden wissen will. Bereits diese zusätzliche, bewusst fiktionale Ebene verleiht „Die Augen des Engels“ eine durchaus komplexe Struktur. Zugleich sorgt sie für einen gewissen Abstand zu dem, was eigentlich unbegreiflich ist und was sich wohl deshalb so gut als Schlagzeile im Boulevard oder im Internet vermarkten lässt.

Als eine „Geschichte über Geschichten“ beschreibt Winterbottom den Kern seines Films, in dem Daniel Brühls von Selbstzweifel geplagter Kreativer auch von eigenen Problemen und Ängsten verfolgt wird. Der von unzähligen Fallstricken begleitete Prozess des Filmemachens bildet den unsichtbaren Rahmen in Wintterbottoms Arbeit, die darüber hinaus den besondere Umgang der Medien mit dem Fall, ihre fast schon obsessive Beschäftigung mit den vermeintlichen Tätern sowie das parallel stattfindende Vergessen des Opfers thematisiert. Immer wieder legt der Film dabei den Finger in längst noch nicht verheilte Wunden. Dass der Regisseur und sein Autor Paul Viragh bei ihrer subtilen aber dennoch unmissverständlichen Medienkritik ohne moralinsaure Predigten auskommen, ist ihnen besonders hoch anzurechnen.
 
Stilistisch zeigt sich diese Ambivalenz in zwei durchaus gegensätzlichen Ansätzen. Mehrmals wechselt der Film von einer eher dokumentarischen Perspektive, die von Winterbottoms Gespür für Authentizität und dem Improvisationstalent seiner Darsteller lebt, zu Genreeinflüssen mit erkennbarem Thriller- und Mysteryeinschlag. Gerade wenn Thomas’ Wahrnehmung wieder einmal unmerklich der Realität entgleitet, spielt die Geschichte mit wohl dosierter Suspense. Sienas märchenhafte Altstadt, die kleinen, engen Gassen, die sich bei Nacht für Besucher wie Thomas in ein Labyrinth verwandeln können, bildet für diese atmosphärischen Trips die perfekte Kulisse. Dass Winterbottoms Blick auf die journalistische wie filmische Wirklichkeit keine endgültigen Wahrheiten bereithält, sondern vielmehr auch die Gefahr eines kreativen Scheiterns ausformuliert, macht aus „Die Augen des Engels“ ein gleichermaßen ehrliches wie unbequemes Experiment.
 
Marcus Wessel