Die Aussprache

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„Die Aussprache“ basiert auf dem 2018 erschienenen Roman von Miriam Toews. Er ist inspiriert vom wahren Fall einer Mennoniten-Gemeinde, in der einige Männer Dutzende Frauen über längere Zeit betäubt und sich dann an ihnen vergangen haben. Das ist die Ausgangslage des Films. Die Frauen stehen nun vor der Wahl: Nichts tun, bleiben und kämpfen, oder weggehen. Im Verlauf eines Tages findet unter den Betroffenen eine Diskussion statt, an deren Ende eine Entscheidung getroffen werden muss. Stark besetzt, toll gefilmt, wundervoll musikalisch untermalt – und mit einer Geschichte, die niemanden kaltlässt.

Webseite: https://www.upig.de/micro/die-aussprache

Women Talking
USA 2022
Regie: Sarah Polley
Buch: Sarah Polley
Darsteller: Rooney Mara, Claire Foy, Frances McDormand, Ben Whishaw

Länge: 104 Minuten
Verleih: Universal
Kinostart: 9. Februar 2023

FILMKRITIK:

Seit längerer Zeit vergehen sich Männer an den Frauen einer Mennoniten-Gemeinde. Sie betäuben sie und vergewaltigen sie. Als einer der Männer erwischt wird, nennt er auch die anderen Täter. Doch es passiert … nichts. Von den Frauen wird erwartet, ihren Peinigern zu vergeben. Es wird nicht nur erwartet, es wird gefordert. Vergebung für die Täter oder die Exkommunikation der Frauen. Doch die Frauen wollen dies nicht hinnehmen, obwohl sie es immer getan haben, weil sie in dem patriarchalischen System dieser Glaubensgemeinde noch nie etwas zu sagen gehabt haben. Diesmal stimmen sie ab: Nichts tun, bleiben und kämpfen oder weggehen. Das sind die Optionen. Die Wahl liegt schließlich zwischen den letzten beiden, weswegen entschieden wird, dass die Familien der Betroffenen nach einer Diskussion entscheiden sollen, was die Frauen tun sollen.

Der wahre Fall ist nur die Ausgangslage, ebenso der Roman, den Sarah Polley nutzt, um eine Geschichte zu erzählen, die auf vielen Ebenen funktioniert, den Zuschauer aber sofort in die Handlung zieht. Man fühlt mit diesen Frauen, denen Bildung vorenthalten wurde, die kaum lesen und schreiben können, von denen immer erwartet wurde, nicht zu denken, nicht zu sprechen, hinzunehmen, was man ihnen antut. Aber sie beginnen, sich zu emanzipieren. Ein großer, ein mutiger Schritt, besonders für Menschen, die immer klein gehalten wurden. Die nie ein anderes Leben gekannt haben, und nicht einmal die nähere Umgebung ihrer eigenen, kleinen Kolonie kennen.

Der Originaltitel „Women Talking“ ist prägnanter als „Die Aussprache“. Es ist keine Aussprache, die hier stattfindet, es ist eine Diskussion, die sich auch mit dem Glauben der Frauen befasst, mit dem, was sie sich wünschen – Sicherheit für ihre Kinder und sich und die Freiheit, selbst zu denken – und mit dem, wie in einem derart patriarchalischen System eine Opfer-Täter-Umkehr stattfindet, indem erwartet wird, dass jede noch so große Schandtat einfach vergeben und vergessen wird. Geschieht dies nicht, so droht man den Frauen, sie würden nicht ins Himmelreich einkehren.

Der Film ist in erster Linie ein Kammerspiel – er spielt großteils in der Scheune, in der die Frauen reden. Aber er ist auch wundervoll gefilmt. Polley entschied sich, die Farben stark zu entsättigen. Fast wirkt der Film, als wäre er schwarzweiß. Das unterstreicht das Erzählte sehr gut. Es wirkt, als werfe man einen Blick auf Vergangenes. Damit wird illustriert, dass diese Frauen im Jahr 2010 in einer Welt leben, die für die meisten längst vergangen erscheint. „Die Aussprache“ funktioniert dabei auf mehreren Ebenen, prangert ein Ungleichheitssystem an, konzentriert sich auf die traumatische Wirkung sexueller Gewalt und zeigt den auch von Angst getriebenen Kampf von Frauen, die nicht länger unter einem Joch leben wollen. Sie wollen im Grunde nur, was jeder will. Basis-Freiheiten, die selbstverständlich sind, die ihnen aber vorenthalten werden – als würden die Taliban nicht in Afghanistan, sondern im amerikanischen Bibelgürtel herrschen.

Der Film behandelt ein schweres Thema, aber er findet immer auch Momente zum Lachen. Diese Frauen lachen, während sie versuchen, eine schwere Entscheidung zu treffen. Mit Rooney Mara, Claire Foy und Jessie Buckley in den Hauptrollen ist der Film exzellent besetzt, Produzentin Frances McDormand ist nur in einer kleinen Rolle zu sehen. Ben Whishaw ist der einzige Mann in dieser Geschichte – ansonsten gibt es keine männliche Perspektive, aber sie ist auch nicht vonnöten in einer Geschichte, in der es um das Gefühlsleben der Unterdrückten geht.

 

Peter Osteried