Die Gentrifizierung bin ich

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Steigende Mietpreise, die Abwanderung bestimmter Milieus aus der Stadt und allgemeine Wohnungsnot: Thomas Haemmerli widmet sich in seinem Mix aus audiovisueller Collage und essayistischer Betrachtung unserer sich immer weiter verändernden Wohnsituation. Anhand seiner Biografie versucht er zu ergründen, was den Wandel vorantreibt – und wie er selbst dazu beiträgt. Aufgrund der provokanten Machart sowie der Flut an reklameartigen Fotos, verzerrten Tönen und bissigen Kommentaren ist „Die Gentrifizierung bin ich“ sicher nicht für jeden gleichermaßen geeignet. Kluge Erkenntnisse und interessante Denkanstöße liefert der selbstkritische Film jedoch allemal.

Webseite: www.gmfilms.de

Schweiz 2018
Regie & Drehbuch: Thomas Haemmerli 
Länge: 98 Minuten
Kinostart: 18. Oktober 2018
Verleih: Gmfilms

FILMKRITIK:

Die Gentrifizierung bin ich – das sagt der Journalist und Filmemacher Thomas Haemmerli freimütig von sich selbst. Weil er eine große, moderne Wohnung in Zürich gekauft hat, trägt er zum Strukturwandel in seinem Stadtviertel bei. Dabei kämpfte er einst gegen die Umwandlung der Bezirke, um sie für zahlungskräftige Bürger attraktiver zu machen. In seiner essayistischen Doku bringt er Aspekte und Themen wie Stadtentwicklung, die Verdrängung bestimmter Schichten in die Randbezirke und die Hausbesetzer-Szene in Verbindung mit seiner eigenen Biografie.

Der Schweizer Haemmerli begann seine journalistische Tätigkeit 1988, nachdem er in seiner Heimatstadt Zürich ein eigenes Stadtmagazin gegründet hatte. In den 90ern arbeitete er für das Schweizer Fernsehen und begann Mitte des Jahrzehnts auch, erste Kurzfilme zu realisieren. Seinen ersten Langfilm („Sieben Mulden und eine Leiche“) veröffentlichte er 2007. „Die Gentrifizierung bin ich“ ist sein zweiter abendfüllender Film. Uraufgeführt wurde er beim internationalen Dokumentarfilmwettbewerb „Zürich Film Festival“ im letzten Jahr.

„Die Gentrifizierung bin ich“ ist schrill, laut und provokativ. Das wird sehr früh klar, denn Haemmerli bedient sich von Beginn an eines aggressiven Sounddesigns und einer collagenartig aneinandergereihten, regelrechten Bilderflut. Charakteristisch für die Tonalität des Films ist eine Auflistung von Gründen relativ zu Beginn des Films. Ursachen, wodurch es – Haemmerlis Ansicht nach – zur Gentrifizierung in den Städten und der allgemeinen Wohnungsknappheit kommt.

Zehn Punkte führt er auf, darunter zum Beispiel den Aspekt, dass Eltern nach dem Auszug der Kinder in den (nun viel zu großen) Wohnungen verbleiben. Oder dass sich wohlhabende Einwohner gerne mal Zweit- oder Drittwohnungen halten, in denen sie sich sowieso nie aufhalten „da sie viel zu viel arbeiten müssen, um sich die hohen Mieten leisten zu können“, wie Haemmerli hämisch kommentiert. Seine von einem ironischen Tonfall geprägten Thesen und Argumente reichert er mit bunten, an knallige Reklame-Optik erinnernde Fotos, Animationen und typografischen Elementen  an, die das Gesagte visualisieren. Zwischendurch erklingen dann immer wieder gellende Töne und sonderbare Geräusche, nicht zuletzt um die einzelnen Punkte und Aspekte seiner Aufzählung (akustisch) voneinander zu trennen und für eine gewisse Ordnung in seinem audiovisuellen Sammelsurium zu sorgen. So verfährt Haemmerli gewissermaßen bis zum Schluss. Und er weiß natürlich, dass er mit dieser Art der überspitzten Umsetzung polarisiert. Allerdings ist ihm so die Aufmerksamkeit gewiss.

„Die Gentrifizierung bin ich“ konzentriert sich bei seinen Betrachtungen auf den Strukturwandel in Zürich, richtete seinen Blick allerdings auch in Weltmetropolen wie São Paulo, Tiflis und Mexiko-Stadt. Nicht ohne Grund: Haemmerli besitzt oder besaß seit seinem beruflichen Aufstieg als Journalist in den 90ern in all diesen Städten Wohnungen, mitunter in mehreren Städten gleichzeitig. Dies dient ihm als thematischer Aufhänger seines Films. Denn Haemmerli ist letztlich selbst zu einem „Gentrifizierer“ geworden: Zu einem jener gut betuchten Weltbürger, die reichlich Wohnraum für sich vereinnahmen und gegen die er in den 80er-Jahren als Teil der Hausbesetzer-Jugend noch zu Felde zog. Dies ist ihm freilich bewusst, weshalb der in seinen Äußerungen stets mitschwingende Zynismus als Selbstkritik verstanden werden kann.

Björn Schneider